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Wie Europa an der Aufarbeitung scheitert

Wie Europa an der Aufarbeitung scheitert

Zur Hochphase der Pandemie waren deutsche Spitzenpolitiker redselig. Detailliert sprachen sie über neue Infektionszahlen und Grenzwerte, deuteten Studien in Talkshows aus und folgerten, welche Maßnahmen dringend geboten seien. Sollen sie nun auf die Corona-Jahre zurückblicken, bleiben sie vage. Bei den Kindern sei man zu streng gewesen, sagte etwa Bundes­gesundheitsminister Karl Lauterbach im Frühjahr.

Lockerungen der Corona-Regeln habe es „wahrscheinlich etwas zu spät“ gegeben, insgesamt aber ziehe er doch eine positive Bilanz. Bundeskanzler Olaf Scholz drückte sich unlängst so aus: Einige Maßnahmen seien „drüber“ gewesen. Dabei bezog er sich auf verbotene Waldspaziergänge und Beerdigungen, de­nen Angehörige der Verstorbenen fernbleiben mussten.

Kanzler Scholz spricht sich nun für ei­nen Bürgerrat aus, in dem zufällig aus­gewählte Menschen über ihre Erfahrungen in der Pandemie sprechen sollen. Etwas mehr als ein Jahr vor der Bun­destagswahl ist ein Bürgerrat, von dem auch die SPD-Fraktionsspitze spricht, aber nicht einmal beschlossen. Die FDP-Fraktion wiederum fordert eine Enquete-Kommission mit Abgeordneten und Sachverständigen aus Wissenschaft und Praxis, die einen Abschlussbericht erstellen.

Die Grünen halten sich mit Vorschlägen zurück. „Hauptsache, wir einigen uns“, sagte die Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge zuletzt. Und die Union, die in der Hochphase der Pandemie die Kanzlerin stellte, will eine parlamentarische Aufarbeitung statt eines Bürgerrats, der aus ihrer Sicht zu einem Tribunal werden würde.

Viereinhalb Jahre nach dem Pandemiebeginn überwiegt die Zahl der Fragen noch immer die Zahl der Antworten. Auch in anderen europäischen Ländern scheitert die politische Mitte bislang daran, eine befriedende Aufarbeitung der Corona-Jahre einzuleiten.

Italiens Politiker wurden fast handgreiflich

In Rom etwa kam es Mitte Februar beim Beschluss zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zur Pandemiepolitik fast zu Handgreiflichkeiten. Für die Einsetzung des Ausschusses hatten die drei Parteien der Mitte-rechts-Koalition von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gestimmt, dagegen die Kräfte der linken Opposition.

Vor al­lem die linkspopulistische Fünf-Sterne-Bewegung unter Giuseppe Conte, die zu Beginn der Pandemie in Italien ei­ne Koa­lition mit den Sozialdemokraten geführt hatte, argwöhnt, der Ausschuss sei ein Instrument zur politischen Hexenjagd statt zur Wahrheitsfindung. Bis heute torpedieren die Fünf Sterne und die Sozialdemokraten den Ar­beitsbeginn des Ausschusses, indem sie sich weigern, Mitglieder für die Kommission zu er­nennen.

Der Ausschuss soll mögliche Ver­fehlungen der damaligen Regierung und des damaligen Gesundheitsministers Roberto Speranza aufdecken, der wenige Monate vor der Pandemie ohne jegliche Expertise in dem Bereich an die Spitze des Ministeriums gelangt war.

Wer will darüber noch sprechen? Das leergefegte Turin im November 2020
Wer will darüber noch sprechen? Das leergefegte Turin im November 2020AFP

Hätte die Regierung Todesfälle verhindern können, wenn sie Anfang 2020 sofort einen Lockdown über das ganze Land oder we­nigstens über sämtliche Hotspots in der Lombardei verhängt hätte statt zunächst nur über wenige Städte und Gemeinden? Beruhten die schließlich doch verhängten drastischen Maßnahmen – von der Ausgangssperre im ganzen Land über Schul- und Betriebsschließungen bis hin zur Impfpflicht für bestimmte Berufe und Altersgruppen – auf solider rechtlicher und wissenschaftlicher Grundlage?

Auch sollen in dem Ausschuss die Rechtmäßigkeit des „Durchregierens“ mit Notverord­nungen ohne Einbeziehung der Legis­lative sowie mögliche Verbindungen zwischen Regierungsmitarbeitern und Pharmakonzernen überprüft werden.

Der lange britische Aufarbeitungsweg

In Großbritannien hingegen hat die Rückschau schon erste Ergebnisse geliefert. Die Fachleute im Gesundheitswesen hätten sich auf die falsche Pandemie (Influenza) vorbereitet, heißt es. Und ihre Empfehlungen für Notfallmaßnahmen seien anschließend ungenügend beachtet und verwirklicht worden, weil die Planungsbeamten damit ausgelastet waren, die Folgen des Brexits zu kalkulieren.

Die Chefin der öffentlichen Untersuchungskommission, die frühere Richterin Baroness Heather Hallett, stellte in ihrem ersten Zwischenbericht fest, es habe „einen Mangel an zureichender Führungskraft, Koordinierung und Aufsicht“ gegeben. Die Statistik registrierte im Vereinigten Königreich mehr als 230.000 Tote; die statistische Sterblichkeitsrate stieg in den Pandemiejahren höher als etwa in Deutschland, aber weniger stark als in Italien.

Die ersten Erkenntnisse der Corona-Kommission machten am Tag ihres Erscheinens in Großbritannien Schlagzeilen, entfachten aber keine längere Debatte. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die damals regierenden Konservativen wenige Tage zuvor abgewählt worden waren. Die damaligen Verantwortlichen sind also nicht mehr im Amt.

Aufnahme aus dem Royal Papworth Hospital in Cambridge im Mai 2020. In Großbritannien starben außergewöhnlich viele Menschen an Covid-19.
Aufnahme aus dem Royal Papworth Hospital in Cambridge im Mai 2020. In Großbritannien starben außergewöhnlich viele Menschen an Covid-19.dpa

In Großbritannien wird wie in anderen angelsächsischen Ländern häufig eine un­abhängige Untersuchungskommission eingerichtet, wenn Sachverhalte von gesellschaftspolitischer Bedeutung aufgeklärt oder aufgearbeitet werden sollen.

Meist ist der Vorsitzende einer solchen Kommission ein ranghoher pensionierter Richter, der von der Regierung bestimmt wird, dann aber nach eigenem Gutdünken Mitglieder und Sachverständige benennt, Unterlagen anfordert und Zeugen vorlädt. Die Zeugen werden dann von dazu bestellten Anwälten befragt.

Die Arbeit der Hallett-Kommission wird in Großbritannien noch Jahre dauern. Der jetzt abgelieferte Bericht war vor allem als Vorbereitung auf eine neue Pandemie gedacht. Die folgenden Berichte werden sich auf das politische Handeln während der Pandemie konzentrieren.

Der österreichische Versuch einer Entschärfung

Die österreichische Regierung hat schon Ende des vergangenen Jahres die Aufarbeitung der Pandemie für beendet erklärt. Da präsentierte Bundeskanzler Karl Nehammer Ergebnisse eines Projekts, das die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) federführend betreut hatte. Nehammers Fazit: Es sei richtig gewesen, alles zu unternehmen, um Menschenleben zu retten und Krankenhäuser vor dem Kollaps zu bewahren.

Die Fehler sah Nehammer vor allem in der Kommunikation: unbedachte Worte, zu wenig Erklärungen, vor allem was die Impfpflicht anging. „Mit dem Wissen von heute würden wir vieles anders machen.“

Dass ein solches Fazit das Thema Corona politisch nicht entschärfen würde, muss auch dem Christdemokraten Nehammer klar gewesen sein. Dem Koalitionspartner, den Grünen, erst recht. Sie kamen bei der Aufarbeitungspräsentation erst gar nicht vor, dabei stellten sie während der Pandemie drei Gesundheitsminister. Dass der Abschluss des Projekts drei Tage vor Weihnachten präsentiert wurde, trug dazu bei, dass er weitgehend unbemerkt verhallte. Wer will, mag das für ein Versehen halten.

Dabei hatte die „türkis-grüne“ Regierung in Wien anfangsgehofft, mit dem Projekt das Thema Corona zu entschärfen. Dass das nicht gelungen ist, liegt vor allem daran, dass eine Partei daraus erhebliches politisches Kapital geschlagen hat: die rechte FPÖ.

Deren Vorsitzender, der frühere Innenminister Herbert Kickl, zog mit aller Schärfe gegen sämtliche Maßnahmen zu Felde und belebte damit seine Partei, die seit der Ibiza-Affäre am Boden lag.

Dass Kickl zu Beginn der Pandemie – ähnlich wie die AfD-Vorsitzende Alice Weidel – die Regierung als zu lasch kritisiert und Isolation und Grenzschließungen gefordert hatte, konnte er erfolgreich vergessen machen.

Kickl nutzte das Alleinstellungsmerkmal hemmungsloser Rundumkritik derart geschickt aus, dass die FPÖ seit rund anderthalb Jahren in Österreich die Umfragen anführt und bei den Parlamentswahlen im Oktober stärkste Kraft werden könnte.

Eine Rhetorik der Alternativlosigkeit

Was die Corona-Misere der Regierung in Wien von anderen unterscheidet, ist vor allem die Impfpflicht. Erst hatte man sie ausgeschlossen, dann nach einer Kaskade hastiger anderer Maßnahmen im Herbst 2021 beschlossen, wollte sie aber erst im Frühjahr 2022 durchsetzen, was dann nie geschah.

Bei dem ÖAW-Projekt waren Kritiker der Maßnahmen zu Dialogforen einge­laden sowie repräsentative Umfragen in der Bevölkerung angestellt worden. Der Soziologe Alexander Bogner skizzierte die Ergebnisse so: Eine Rhetorik der Alternativlosigkeit habe besonders in Sachen Impfpflicht zu einer Verhärtung der Fronten beigetragen.

Skeptische Personen seien zudem mit moralisierenden Argumenten konfrontiert worden. Die Pandemie sei von Herbst 2020 an eine chronische Krise gewesen, in der die Solidarität abebbte und Wissenschaftsskepsis und Polarisierung Einzug hielten.

Als das gesellschaftliche Leben ruhte: Die Hocker einer geschlossenen Bar in Wien im November 2020
Als das gesellschaftliche Leben ruhte: Die Hocker einer geschlossenen Bar in Wien im November 2020dpa

Soziologe Bogner empfahl, eine Krise aus verschiedenen Blickwinkeln – nicht etwa nur aus virologischer Sicht – zu betrachten, da sonst politische Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt würden. Au­ßerdem sollte auf deutliche Grenzen zwischen Politik, Wissenschaft und Medien geachtet werden, damit keine Vertrauensverluste entstehen.

Ähnlich äußerte sich die frühere Vorsitzende des deutschen Ethikrates, Alena Buyx, zuletzt in der F.A.Z. „Es geht auch um die Frage, was diese Zeit mit uns gesellschaftlich gemacht hat, welche Emotionen sie hervorgerufen hat. Die Antworten können nicht ausschließlich Wissenschaftler geben, wir müssen die Sum­me der Erfahrungen, die es gibt, abrufen und sichtbar machen und daraus lernen“, sagte die Medizinethikerin, die sich während der Pandemie für Einschränkungen für Ungeimpfte ausgesprochen hatte.

In Österreich gab es auch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der jedoch nur einen bestimmten Aspekt der Corona-Maßnahmen behandelte, nämlich die wirtschaftlichen Ausgleichsmaßnahmen. Der Ausschuss war dies­bezüglich aber wenig ergiebig, weil alle möglichen anderen Themen hineingepackt wurden, besonders die Signa-Pleite des österreichischen Unternehmers René Benko.

Die oppositionellen Sozialdemokraten zogen das Fazit, das sie schon in der Themenstellung vorweggenommen hatten, nämlich dass Millionäre von der Regierung bevorzugt worden seien.

Frankreichs Aufarbeitung in Echtzeit

In Frankreich begann die Aufarbeitung der Corona-Politik bereits, als die Pandemie gerade erst angefangen hatte. Drei Richter des Sondergerichtshofs Cour de Justice de la République haben sich ab Juli 2020 mit möglichen Versäumnissen der Regierung befasst. Gegen die ehemalige Gesundheitsministerin Agnès Buzyn sowie gegen den ehemaligen Premier­mi­nister Edouard Philippe wurden gar Ermittlungen eingeleitet.

Im März 2020 wurde auch eine parlamentarische Kontrollmission eingesetzt, um das Pandemiemanagement kontinuierlich zu überwachen. Der erste Bericht wurde im Juni 2020 vorgelegt. Die Kon­trollmission wurde dann in einen Untersuchungsausschuss umgewandelt.

Nach mehr als 60 Anhörungen umfasste der Abschlussbericht vom 8. Dezember 2020 220 Seiten, in denen schwere Versäumnisse und Schlampereien bei den Masken, den Tests und im Umgang mit Pflege­heimen aufgelistet wurden.

Die strategischen Vorräte an FFP2-Masken seien aufgrund der Haushaltszwänge vor der Pandemie abgebaut worden. Der Staat habe seine eigenen Notfallpläne nicht eingehalten und hätte bei Ausbruch der Pandemie nur noch über 118 Millionen konforme Masken verfügt.

Auch bei den Tests sei es zu Verzögerungen gekommen. Davon seien vor allem Pflegeheimbewohner betroffen gewesen, welche die Hälfte der Covid-19-Todesfälle ausmachten.

Der Bericht formulierte 30 Empfehlungen zu einer besseren Vorbereitung auf künftige Gesundheitskrisen. Unter anderem wurde angeregt, eine jährliche Liste zum Stand der strategischen Vorräte des Staates zu erstellen. Am 8. Dezember 2020 legte auch die zweite Parlamentskammer, der Senat, einen Bericht seines Untersuchungsausschusses zur Corona-Krise vor.

Der Senat beklagte insbesondere die Vernachlässigung der älteren Menschen. 93 Prozent der mehr als 50.000 Covid-19-Todesopfer seien über 65 Jahre alt gewesen. Zugleich erkannte der Senat die „frühe Mobilisierung“ der Gesundheitsministerin an, auch wenn ihre wiederholten Warnungen „nicht beachtet oder befolgt“ wurden.

Frankreich war 2021 eine erfolgreiche Wende bei der Impfkampa­gne gelungen. Präsident Emmanuel Macron hatte das Impfen im Juli 2021 zur Chefsache erklärt.

In Deutschland hielten viele Spitzenpolitiker das Versprechen, es werde keine Impfpflicht geben, zu dieser Zeit hoch. Neun Monate später stimmte der Bundestag dann doch über eine allgemein verpflichtende Corona-Impfung ab. Diese wurdevon den Abgeordneten mehrheitlich verneint, doch schon die bloße Abstimmung kostete in Teilen der Bevölkerung Vertrauen, das bis heute fehlt.