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Rita Süssmuth über Courage in der Krise: „Wir haben zu wenig Mitgefühl“

Rita Süssmuth über Courage in der Krise: „Wir haben zu wenig Mitgefühl“

Die ehemalige CDU-Politikerin Rita Süssmuth hat in Kohls Kanzlerschaft wichtige Ämter bekleidet. Ein Gespräch darüber, wie man handlungsfähig bleibt.

„Ich habe das Zweifeln gekannt, aber nicht die Verzweiflung“ – Rita Süssmuth über ihre Zeit als Politikerin Foto: Doro Zinn

Unter den Linden in Berlin, in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor, hat Rita Süssmuth ihr Büro. Die ehemalige Gesundheitsministerin und langjährige Bundestagspräsidentin veröffentlichte kürzlich ein Buch, „Über Mut“ lautet der Titel. In der Ankündigung heißt es, dass die 87-jährige CDU-Politikerin, die ihre eigenen fortschrittlichen Vorstellungen jenseits der Parteidisziplin nie aus dem Blick verlor, sich darin vermutlich zum letzten Mal zu Wort meldet.

Süssmuth will mit dem Buch aufrütteln, die Angst nehmen vor den Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft steht mit dem Klimawandel, den Kriegen und den Propagandisten weltweit. Sie schreibt darüber, dass es sich lohnt, mutig zu sein, anzupacken, nicht zu verzagen.

Die Frau

Rita Süssmuth ist 1937 in Wuppertal geboren. Erst hat sie Romanistik und Geschichte auf Lehramt studiert. Dann Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie. Anschließend ging sie in die Wissenschaft und Lehre, u. a. an der Universität Dortmund.

Die Politikerin

1981 trat sie der CDU bei. 1985 holte Helmut Kohl sie als Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit in die Regierung. Ab 1988 war sie zehn Jahre lang Präsidentin des Bundestags. Für ihr politisches Engagement wurde sie vielfach geehrt.

Darüber will ich mit ihr sprechen. Im Vorfeld sollte ich ihr die Fragen schicken. Das Wort „Mut“ schien mir als roter Faden dafür geeignet, weil es in so vielen Varianten zum Leben und der politischen Wirkmächtigkeit der gläubigen Politikerin passt. Kampfesmut, Lebensmut, Demut, Großmut, Übermut, Todesmut, Heldinnenmut. Zu all dem kommt es aber erst mal nicht. Frau Süssmuth will nicht, dass Inhalte kunstvoll abgefragt werden, sie will ein Gegenüber, mit dem sie in Dialog treten kann. Schon als sie ins Konferenzzimmer tritt, sagt sie …

Rita Süssmuth: Frau Schwab, Sie sehen ja tatsächlich so aus wie auf den Fotos.

taz: Sie auch. Und ich sehe, Sie haben meine Fragen dabei.

Süssmuth: Damit können wir uns später befassen. Aber um es gleich zu sagen: Ich habe keinen Todesmut. Und ich muss erst etwas von Ihnen erfahren. Mich interessiert, dass Sie so viel über Menschen schreiben.

taz: Weil jeder Mensch etwas Eigenes, etwas Geheimes hat. Dem versuche ich mich zu nähern. Nicht dem Geheimnis an sich, sondern der Kraft, die die Person antreibt. Wie die Kraft, die Sie antreibt.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Süssmuth: Spannend. Man soll die Geheimnisse der Menschen doch auch nicht lüften wollen. Aber Ihnen geht es wohl um das Geheimnis des Menschseins, um der Menschen ganz eigene Wahrheit.

taz: Nur, was ist die Wahrheit eines Menschen?

Süssmuth: Das ist eine philosophische Frage. Ich dagegen war stets mit der Wirklichkeitserfahrung konfrontiert. Da vor allem, wo Lösungen für Probleme, für Konflikte gefunden werden müssen. Und meine Frage ist immer, ist es wirklich ausgeschlossen, mit einem Konflikt helfender und humaner umzugehen? Es muss um Antworten gehen, mit denen Menschen – insbesondere Frauen – leben können.

taz: Hat Sie das vorwärts gebracht, dass Sie andere Antworten für möglich gehalten haben?

Süssmuth: Ich muss sagen, was mich wirklich vorwärts gebracht hat, ist, dass ich an Menschen glaube. Und dass wir viel mehr Stärken haben, als wir uns klarmachen. Vielleicht ist das auch gut, sonst würden wir übermütig. Sind wir sowieso. Aber wir machen Grenzerfahrungen, die uns immer wieder auch in die Realität zurückholen.

taz: Da ist sie ja wieder die Frage: Welche Realität?

Süssmuth: Die Menschen haben verschiedene Realitäten. Was der einen wichtig ist, ist dem anderen unwichtig. Nehmen wir als Beispiel Schmuck. Für mich ist das etwas Dekoratives, nichts, was ich mit unverzichtbarem Wert verbinde.

taz: Obwohl Sie aus einer Familie kommen, wo es einen Uhrmacher mit Schmuckgeschäft gab?

Süssmuth: Trotzdem mache ich mir wenig daraus. Jetzt könnte ich sagen: Mit dieser Haltung erkennst du das Künstlerische am Schmücken nicht. Doch, das erkenne ich, aber ich brauche es nicht.

taz: Sollten Sie mal Juwelierin werden wie Ihre Vorfahren?

Süssmuth: Ach wissen Sie, ich bin zwei Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg geboren. Und die Erfahrungen waren ganz anders als die davor und als die danach. Das muss ich immer berücksichtigen, diese Unterschiede der Zeit, in die man hineingeboren ist. Denn sie machen die Sicht auf die Wirklichkeit auch aus.

taz: Haben Sie Kindheitserinnerungen an die Zeit im Krieg?

Süssmuth: Ich bin in Wuppertal geboren. Und ich erinnere mich, dass wir noch mit dem Puppenwagen auf der Straße gespielt haben.

taz: Auch während des Kriegs?

Süssmuth: Damals war unser Stadtteil Oberbarmen noch nicht zerstört. Das benachbarte Barmen schon. Das Elternhaus meiner Mutter ist abgebrannt. Ihre Freundin ist verbrannt. Sie ist nie damit fertiggeworden. Hatte Depressionen. Ich musste Verständnis für sie haben. Aber was ich sagen will: Damals nach den dunklen Kriegsjahren kamen die Aufstiegsjahre. Die waren beherrscht von so einem Das-wollen-wir-doch-mal-sehen. Und dieses Das-wollen-wir-doch-mal-sehen ist bei mir auch gewachsen.

taz: Das heißt, Sie haben den Umständen getrotzt?

Süssmuth: Was ich sagen will: Es hat sich bei mir dann die Opposition durchgesetzt. Ich war an sich ja ein braves Kind – aber dickköpfig. Wenn ich in die Ecke gestellt wurde, dann erwarteten meine Eltern, dass ich schon von alleine wieder rauskomme. Aber nein, ich blieb im Dunkeln sitzen, bis die kamen. Ich bettelte nicht um Erlösung.

taz: Geben Sie nicht so schnell nach?

Süssmuth: Kann man sagen. Ich habe aber auch ganz früh Verantwortung übernehmen müssen. Der Vater im Krieg, die Mutter krank und es waren drei Kinder da. Nach dem Krieg sind noch zwei zur Welt gekommen. Also wenn Sie in der Verantwortung stehen, dann reflektieren Sie nicht jeden Augenblick.

taz: Sondern?

Süssmuth: Dann müssen sie handeln. Das ist so eine Komponente, sag ich jetzt mal, so eine Lebenslinie, die mich ausmacht. Nicht nur in der Politik, auch schon vorher als Professorin an der Uni oder eben nach dem Krieg, als man den Kopf nicht in den Sand stecken durfte.

taz: Dafür plädieren Sie in Ihrem Buch: dass man nicht nur lamentiert, sondern den Mut aufbringen muss, etwas gegen das, was man nicht richtig findet, oder vor dem man Angst hat, zu tun. Das Buch wirkt wie ein Vermächtnis.

Süssmuth: Ist es aber höchstens in dem Sinne, dass es aufzeigt, was mir wichtig ist.

taz: Lässt sich Ihr Leben mit „Sie hatte Mut“ zusammenfassen?

Süssmuth: Das habe ich natürlich als Kind so nicht erlebt, sondern ich hatte Ängste wie andere Kinder auch. Aber ich musste gleichzeitig handeln.

taz: Brauchte es dazu Mut?

Süssmuth: Schon, aber es gibt wichtige Erfahrungen, bei denen ich wirklich sehr viel Mut brauchte. Zum Beispiel in der Aidskrise. Damals war ich Gesundheitsministerin.

taz: Das war Mitte der 80er Jahre, Helmut Kohl hatte Sie als Querein­steigerin ins Kabinett geholt und dann mussten Sie sich fast sofort mit HIV und Aids befassen. Bei dem Thema gaben die Hardliner den Ton an.

Süssmuth: Ich wollte eine Politik, die auf Aufklärung und Prävention setzt. Andere wollten eine Politik der Ausgrenzung. Es war wichtig, dass ich meine Vorstellungen durchgesetzt habe gegen Kollegen der eigenen Fraktion. Dass mir das gelungen ist, das war der Durchbruch in meinem Leben. Dafür habe ich viel Mut gebraucht, es schien anfangs wirklich aussichtslos. Und dann kam diese starke Komponente dazu, die es erst möglich gemacht hat.

taz: Welche?

Süssmuth: Die Unterstützung durch Aidskranke, durch Pfleger und Pflegerinnen und durch die Menschen auf der Straße. Es herrschte ja die Haltung vieler Konservativer, dass Aidskranke sündig seien und die Krankheit nun ihre Strafe war. „Nein, für die gebe ich keinen Pfennig“, sagten sie. Aber da gab es auch die anderen; ich erinnere mich an einen Jungen etwa, der kramt in seiner Hose, ob er nicht doch noch ein Markstück findet und schmeißt es in die Büchse.

taz: Sind Sie selbst auf die Straße gegangen, um Geld für Ihre Aidspolitik zu sammeln?

Süssmuth: Ja. Und da lernt man Menschen kennen. Das waren für mich Urerlebnisse. Was mir mit der Aidspolitik gelungen ist, war, Menschen in die Eigenverantwortung zu bringen, die Kranken und die Nichtkranken, dass sie aufpassen, dass das Virus in Schach gehalten wird, das ist wirklich wie ein kleines Wunder.

taz: Mut brauchten Sie vor allem, um sich politisch durchzusetzen. Gegen die Widersacher in Ihrer Fraktion.

Süssmuth: Das fing ganz übel an; ich war Gesundheitsministerin, was mir nicht half, denn Gauweiler von der CSU hatte das Sagen. Er wollte die Aidskranken isolieren und alle anderen Homosexuellen zwangstesten. Ich habe gesagt, wie oft wollen Sie sie in der Woche testen? Und was gewinnen Sie dabei? Sie können die Krankheit oder einen Impfstoff testen. Aber die Sexualität können Sie nicht testen.

taz: Das klingt sehr klug.

Süssmuth: Aber der Mensch besteht nicht nur aus Klugheit. Da gibt es noch was anderes, nennen Sie es Seele, Gefühl oder Bauchgefühl. Und das ist mitunter kein schlechter Indikator. Dem bin ich gefolgt. Es ist uns Frauen ja immer vorgeworfen worden, wir könnten keine Politik machen, weil wir zu emotional seien. Ich würde heute sagen, weil wir zu wenig Emotionalität, zu wenig Mitgefühl in der Welt haben, steht es so schlecht um sie. Dieses Mitgefühl wieder zurückzugewinnen wäre jetzt dringend notwendig.

taz: Warum?

Süssmuth: Weil die Menschen wieder Angst haben. Wir stehen doch vor großen Herausforderungen. Ich beginne mal mit unserem Planeten. Den haben wir übernutzt. Und jetzt merken wir: Es ist Schluss. Und die einen sagen: Das ist Quatsch. Und die anderen sagen: Es ist allerhöchste Zeit. Der Club of Rome hatte es schon in den Siebziger Jahren gesagt, dass wir den Planeten schonen müssen. Und wir tun es nicht. Wir haben aber keine Zeit mehr zu verlieren. Und den Menschen, die die Dringlichkeit sehen, sage ich: Gebt nicht auf.

taz: Das spielt auch in Ihrem Buch eine Rolle. Sie verlangen von den Politikern und Politikerinnen, dass diese den Menschen die Wahrheit sagen über die Klimakrise, und dass radikal gehandelt werden muss.

Süssmuth: Wer das nicht tut, wiegelt ab. Und wer abwiegelt, nimmt den anderen nicht ernst. Aber was ich schon auch betonen muss: Es gibt viele Menschen, die sich gegen die Klimakrise, die Demokratiekrise stellen. Fridays for Future zum Beispiel. Wer sagt, die gehören nicht auf die Straße, dem entgegne ich: Gibt’s nicht auch noch andere Lernorte als die Schule?

taz: Sie wollen, dass die Politik viel konsequenter gegen den Klimawandel vorgeht. Aber warum gehen Sie dabei so wenig ins Gericht mit Ihrer eigenen Partei, die den Menschen genau nicht die Wahrheit sagt. Oder mit Friedrich Merz, der den Klimawandel totschweigt?

Süssmuth: Am Klimawandel kommt niemand vorbei. Wir fürchten um die Arbeitsplätze, die davon betroffen sind. Aber dieses Thema muss mutig angegangen werden. Auch von unserem Parteivorsitzenden, gleichwohl das nicht konfliktfrei verläuft.

taz: Was muss getan werden, damit die Klimakrise nicht komplett außer Kontrolle gerät?

Süssmuth: Es läuft auf Verzicht hinaus. Aber ich sage nicht „Verzicht“. Und warum nicht? Weil ich dann einen anderen Gedanken fallen lassen würde. Der, dass Verzicht auch ein Gewinn sein kann. Als ich mein Auto aufgegeben habe, habe ich das nicht als Verzicht, sondern als Notwendigkeit wahrgenommen.

taz: Sie haben einfach eine andere Perspektive entwickelt.

Süssmuth: Ja. Aber ich darf an dem Punkt nicht stehenbleiben. Ich brauche auch die Erfahrung: Mensch, ich kann doch was verändern.

taz: Haben Sie gegen massive Widerstände in Ihrer eigenen Fraktion etwas verändert und erreicht?

Süssmuth: Ich weiß nicht, wie viel ich erreicht habe, aber eines kann ich sagen: Ich habe die Menschen erreicht. Ob ich meine Fraktion erreicht habe? Ich glaube nicht. Aber ich habe Verbündete gefunden. Viele, auch in der eigenen Partei. In der Aidskrise habe ich viele Menschen gefunden, die auch diesen tiefen Schmerz empfunden haben. Wenn Sie den Schmerz in den Augen der jungen Männer gesehen haben, dann wussten sie, dass Sie etwas tun müssen. Und da kann ich nicht sagen: „Morgen wirst du getestet und dann bringen wir dich irgendwohin.“ Wir erinnern uns viel zu selten daran, wie schlimm es war. Damals gab es die antivirale Therapie noch nicht. Ich habe zu meinem Staatssekretär gesagt: „Wir müssen einen anderen Weg finden und wir können das.“ Ich bin stolz darauf, dass wir das geschafft haben.

taz: Ich glaube, dass Sie auch recht zufrieden sind mit dem Kompromiss, den Sie in der Frage der Abtreibung fanden.

Süssmuth: Ich behaupte nicht, dass ich den Konflikt gelöst habe. Dieser ist sehr kompliziert. Aber wir können einen menschlicheren Umgang finden und wir können denen, die anders entscheiden, als es der Staat und die Gemeinschaft insgesamt wünscht, mit Respekt begegnen, und müssen Frauen, die abtreiben, nicht verurteilen. Ich habe die Verzweiflung der Schwangeren gesehen und ich habe sehr für die Selbstbestimmung gekämpft. Wir haben das doch erlebt, dass jahrzehntelang, jahrhundertelang der Mann über die Frau bestimmt hat.

taz: Hatten Sie nie Zweifel, wenn Sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten?

Süssmuth: Ich habe das Zweifeln gekannt, aber nicht die Verzweiflung. Ich habe aber immer auch wieder das Glück gehabt, mit Menschen zusammen zu sein, die in schwierigen Momenten sagten: „Du darfst nicht aufhören, du musst durchhalten.“ Also wenn jemand nie zweifelt, dann werde ich kritisch. Ja, und dann bin ich auch davon überzeugt, dass wir nicht allein sind.

taz: Sie meinen Gott?

Süssmuth: Ich kann es nicht definieren. Ich kann es nur spüren.

taz: Ich vermute, Ihr Mann, Ihre Tochter haben Sie auch unterstützt.

Süssmuth: Ich hatte einen tollen Mann. Ich war leichtfüßiger als er, tanzte gerne. Er lebte schwerer. Aber da konnte ich ihm auch immer wieder helfen. Er war ein zuverlässiger Mensch. Loyal. Ich weiß nicht, ob und wie ich ihn glücklich gemacht habe. Das wird ein Geheimnis bleiben. Man hat von der Kraft des anderen gelebt. Aber was mir auch geholfen hat: die Musik. Ich liebe Musik, diese Sprache jenseits der Sprache, diese Sprache der Liebe.

taz: Haben Sie auch mal geweint im politischen Umfeld?

Süssmuth: Natürlich. Das hat was Befreiendes. Und wissen Sie, niemand kann seine Tränen durchgehend kontrollieren.

taz: Sie sind krank, haben Krebs, denken Sie, dass Sie bald loslassen müssen?

Süssmuth: Ich muss loslassen von Äußerlichkeiten. Aber deswegen muss ich mich nicht selbst loslassen, gehen lassen. Dieses Loslassen begleitet uns alle ein Leben lang.

taz: Würden Sie Ihre Enkel gerne groß werden sehen?

Süssmuth: Bedingt. Ich freue mich, wenn Sie da sind. Ich freue mich auch, wenn Sie sich wohlfühlen. Aber ich glaube, da beginnt das Loslassen. Manches verstehe ich auch nicht und muss mich hineinfinden und sagen: Ja, das ist ihr Leben. Jeder hat nur eine begrenzte Reichweite. Und meine habe ich schon ziemlich ausgereizt. Und dann sehe ich all die Probleme, die Kriege, die Klimakrise …

taz: Macht Ihnen das Angst?

Süssmuth: Ja, es macht mir Angst. Auch diese Aggressivität. Vielleicht lebe ich ja noch ein bisschen. Ich möchte, dass Menschen wieder anders miteinander sprechen und sich in andere hineinversetzen. Wenn Sie Armut sehen, Menschen, die in Bahnhofsunterführungen in Decken gehüllt sind, das ist ein Aufschrei. Ich bin auch überzeugt, dass die Massivität, mit der uns gegenwärtig die ungleich behandelte Welt begegnet, ein Aufschrei ist. Wir haben sehr an uns gedacht, aber nicht an die anderen.

taz: Sie plädieren für Empathie in der Politik. Ist es das, was man heute feministische Politik nennt?

Süssmuth: Ja.

taz: Haben Sie feministische Politik gemacht?

Süssmuth: Ja, das habe ich. Und sehen Sie, einige sehen mich nur als Rebellin, diese Süssmuth, die bringt uns alles durcheinander.

taz: Wohl eine kluge, eine diplomatische Rebellin?

Süssmuth: Das stimmt. Die Diplomatie ist nicht einfach nur Staatskunst, sondern eine menschliche Kunst.

taz: Und die beherrschen Sie?

Süssmuth: Ich denke schon.