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Jenseits von Doom and Gloom – Verfassungsblog

Jenseits von Doom and Gloom – Verfassungsblog

Wer sich nach der Thüringen- und Sachsen-Wahl niedergeschlagen fühlt in diesen Tagen, resigniert und depressiv, sollte mal auf die USA schauen. In zwei Monaten wird dort ein neuer Präsident gewählt. Nicht nur könnte Donald Trump diese Wahl gewinnen. Er könnte sie auch verlieren und trotzdem Präsident werden. Das ist möglich, und dass er das versuchen wird, ist sogar wahrscheinlich, jedenfalls bei einem einigermaßen knappen Wahlausgang. Die Republikaner und ihr Umfeld bereiten dies unter dem orwellesken Schlagwort election integrity seit Jahren gezielt und strategisch vor. In den wahlentscheidenden swing states, deren Regierung und/oder Parlamentskammern sie dominieren, werden am laufenden Band Gesetze erlassen und Personalentscheidungen gefällt, die genau dies zum Zweck haben. Es geht dabei nicht allein um voter supression und gerrymandering und andere schon länger bekannte Taktiken der Wahlmanipulation (die werden auch eingesetzt, und zwar in atemberaubendem Umfang). Es geht längst auch darum, die Wahl als solche zum Entgleisen zu bringen, sollte sie das „falsche“ Ergebnis auswerfen.

Besonders krass sieht man das im Augenblick im heiß umkämpften Bundesstaat Georgia. Dort haben die Republikaner schon 2021 die Wahlkommissionen auf County-Ebene unter ihre Kontrolle gebracht und Schwarze und demokratische Mitglieder aus den Kommissionen hinausgedrängt und Leute dort platziert, die Trumps Wahlniederlage 2020 als das Resultat von Wahlbetrug betrachten und bezeichnen. Wenn am 5. November gewählt wird, können diese Kommissionen die kleinsten Unregelmäßigkeiten zum Vorwand nehmen, die Zertifizierung des Wahlergebnisses in ihren Counties auf unbestimmte Zeit hinauszuzögern. Bis spätestens 11. Dezember müssen die Wahlergebnisse überall zertifiziert sein, damit am 17. Dezember das Electoral College zusammentreten und die Wahl der neuen Präsident*in offiziell vollziehen kann. Wenn das nicht passiert? Dann herrscht Chaos.

Der deutsche Blick auf die Präsidentschaftswahl in den USA sieht da vor allem eine Institution: Da gibt es Regeln, Verfahren und Abläufe, und an denen wird sich orientiert, wenn man darüber spricht, was dabei herauskommt. Ein spannendes Rennen, das nach geordneten Regeln abläuft, und alle fiebern mit, wer da als erstes die Ziellinie von 270 Wahlmänner/-frauenstimmen überschreitet. So ist das ja auch in normalen Zeiten: Wer nach diesen Regeln und Verfahren 270 Stimmen zusammen bekommt, wird Präsident*in. Dass dies längst keine normalen Zeiten mehr sind, sollte eigentlich spätestens seit dem 6. Januar 2020 klar sein. Zu dem Sturm aufs Kapitol hat Trump an diesem Tag aufgerufen, als ihm und seinen Anhängern klar wurde, dass ihr eigentlicher Plan, durch Institutionenmissbrauch ihre Niederlage in einen Sieg umzubiegen, nicht aufging, weil Vizepräsident Mike Pence die ihm dabei zugedachte Rolle nicht spielen wollte.

Institutionenmissbrauch. Darauf bereiten sich in den USA seit Monaten und Jahren Heerscharen von Aktivist*innen, Anwält*innen und Jurist*innen akribisch vor. Sie analysieren Szenarien und entwickeln Gegenpläne. Was passiert, wenn in einigen republikanisch regierten Swing States einige der entsandten Mitglieder des Electoral College nicht für Kamala Harris stimmen, obwohl sie ihren Staat gewonnen hat, und es deswegen dann für die nötigen 270 Stimmen im Electoral College nicht mehr reicht? Was, wenn Harris und Trump beide genau auf 269 Stimmen kommen? Was, wenn dann die Entscheidung darüber, wer Präsident*in wird, auf die Staatendelegationen im House of Representatives übergeht und damit auf die Republikanische Partei? Das sind alles keine wilden hypothetischen Horrorszenarien. Das kann echt passieren. Das wird passieren, wenn sich die Möglichkeit dazu ergibt. Dafür, dass sich diese Möglichkeit nicht ergibt, kämpfen im Augenblick zahllose Menschen bis zum Umfallen, und zwar auch und insbesondere mit juristischen Mitteln. Zahllose Gerichtsverfahren werden vorbereitet, geführt und nicht selten auch gewonnen. Da findet eine enorme Mobilisierung statt. Da wird sich vernetzt und organisiert. Da wird gekämpft!

Björn Höcke hat jetzt also eine Sperrminorität in Thüringen. Das ist nicht gut. Überhaupt nicht. Das ist schlimm. Seine Möglichkeiten zur Obstruktion und zur Erpressung politischer Einflussmöglichkeiten sind enorm gewachsen, und für manches, was zuvor noch möglich war, ist es jetzt zu spät. Aber es ist nicht das Ende aller Tage. Höcke ist nicht an der Macht, und seine Gegner haben es in der Hand, ihn auch weiterhin von der Macht fernzuhalten. Das ist einerseits anspruchsvoller, andererseits aber auch leichter geworden: Seine Strategie des Institutionenmissbrauchs tritt jetzt viel deutlicher zu Tage. Und damit auch die Notwendigkeit, ihr entgegen zu treten.

Die elende deutsche Institutionengläubigkeit lähmt und entmutigt. Sie speist das Gefühl, dass die totale Machtübernahme der autoritären Populisten unentrinnbar und eigentlich nur noch eine Frage der Zeit ist. Superschurke Höcke, das evil mastermind, weiß immer ganz genau, welche institutionellen Knöpfe er drücken muss, um in jedem Fall zu gewinnen! We are all doomed! Wenn wir diesem Gefühl von schicksalhafter Unausweichlichkeit nachgeben, dann hat uns Björn Höcke genau da, wo er uns haben will.

Jede Institution ist missbrauchbar. Es gibt keine perfekte Verfassung, das haben wir im Thüringen-Projekt immer wieder betont. Die Institutionen können uns nicht retten. Aber wir können die Institutionen retten. Dazu ist es notwendig, zu mobilisieren, sich zu vernetzen und zu organisieren. Dazu ist es notwendig, den Wissensvorsprung, den die autoritären Populisten in Hinblick auf institutionelle Missbrauchspotenziale haben, aufzuholen. Dazu ist es notwendig, in Szenarien zu denken. Nicht nur in Thüringen, wie wir es in den letzten Monaten getan haben. Sondern in der Bundesrepublik generell.

Und das wollen wir jetzt tun.

Wir wollen zivilen Verfassungsschutz organisieren. Der Schutz der liberalen demokratischen Verfassung ist nichts, was wir dem Sicherheitsapparat überlassen können, dürfen und wollen. Das muss die Zivilgesellschaft zu ihrer Aufgabe machen.

Sie fragen sich: was kann ich denn jetzt machen? Hier ist die Antwort. Wir brauchen Ihre Unterstützung. Ihre Spende. Projektförderung ist toll, aber nicht genug. Wir brauchen eine breite zivilgesellschaftliche Basis für unsere Arbeit.

Mobilisieren, vernetzen, sich organisieren: Werden Sie Teil des zivilen Verfassungsschutzes!

 

Dank an Anja von Rosenstiel für wertvollen Input!

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Editor’s Pick

von LOUISE LEHMANN

Mein Rucksack war voll, als mir meine Mitbewohnerin noch “Frei” von Lea Ypi einpackte. Aber nach den ersten Seiten hatte sich das Buch seinen Platz schon verdient. Lea Ypi erzählt von ihrem Leben, vom Erwachsenwerden im poststalinistischen Albanien, von ihrer Familie, dem Ende der Diktatur unter Enver Hoxha und dem Wechsel politischer Systeme aus der Sicht eines Kindes. Quasi nebenbei taucht man tief in die politische Historie Albaniens ein, liest von einer geköpften Stalin Figur und beschäftigt sich mit der großen Frage nach Freiheit und warum diese selten für alle funktioniert. Ein perfektes Buch für den (albanischen) Strand, passt aber auch in den Arbeitsrucksack und füllt die Wissenslücken über dieses oft übersehene Land mit Leichtigkeit. Lea Ypi, Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte, Übersetzt von Eva Bonne, Suhrkamp Verlag, Taschenbuch, 2023, 333 S., 14,00 Euro.

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Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von LOUISE LEHMANN

Nix mit Herbst, noch ist es Sommer, die Woche war heiß. Nur die Wahlergebnisse von vergangenem Sonntag haben die ausgelassene Spätsommerstimmung überschattet, denn:

Dass es eine AfD-Regierungsbeteiligung geben könnte, scheint nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen weniger ausgeschlossen denn je. LUISE QUARITSCH (DE) untersucht, inwiefern die Europäische Union darauf reagieren könnte, wenn ein deutsches Bundesland gegen EU-Grundwerte verstoßen sollte, etwa durch diskriminierende Politiken. Gerade budgetäre Maßnahmen erscheinen geeignet und könnten ein Land wie Thüringen empfindlich treffen.

Nach langem hin und her liegt die Trennung von Sahra Wagenknecht und die Partei Die Linke nun schon eine Weile zurück – das Beziehungsende dürfte auch ein finanzielles Nachspiel haben. Der Frage, ob ein Stadtratsabgeordneter seiner Ex-Partei noch Mandatsträgerbeiträge schuldet, gehen JAKOB KNAPP und CLARA VEELKEN (DE) nach.

Nun also doch? Nachdem die Bundesregierung vor neun Jahren entschied, Asylbewerber nicht an den deutschen Grenzen zurückzuweisen, fordert CDU-Chef Friedrich Merz nun Zurückweisungen an der Grenze aufgrund einer „Notlage“ und stellte der Bundesregierung zuletzt sogar ein Ultimatum, um eine entsprechende Erklärung abzugeben. Doch ließe sich dieser „Merz-Plan“ rechtlich überhaupt umsetzen? DANIEL THYM (DE) meint: Von vornherein rechtswidrig sind die Vorschläge nicht, aber rechtliche und politische Risiken birgt der Plan allemal.

„Goodbye Vorratsdatenspeicherung“, schrieb die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bei uns, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2020 in einem Urteil an seiner restriktiven Rechtsprechung zur Speicherung und Weitergabe von Telekommunikationsverkehrsdaten festhielt. JOACHIM HERRMANN (DE) hält nach einem neueren Urteil nun dagegen und meint: Für den Opferschutz sei die Vorratsdatenspeicherung ein wichtiges Instrument.

Weiter ging es mit Ungarn. Das neue ungarische Amt für den Schutz der Souveränität besitzt beispiellose Befugnisse. Schon jetzt schüchtert es NGOs, Anwält:innen und Journalist:innen ein und untergräbt damit die Voraussetzungen einer freien und unabhängigen Gesellschaft. FERNANDA G. NICOLA und JASMINE D. CAMERON (EN) rufen die Union und die europäische Zivilgesellschaft dazu auf, unverzüglich zu handeln. Nicht untergraben, sondern gefällt wurden dagegen eine Reihe von Bäumen in Ungarn – was direkt zu einem weiteren Konflikt mit der Europäischen Union führte. Den Ungarn hatte EU-Mittel verwendet, um einen Baumwipfelpfad zu bauen, der es ermöglichen sollte, die Baumkronen zu bewundern. Doch die Bäume rundherum wurden gefällt, sodass der Pfad jetzt in einer Wüste steht. KRISZTINA KARSAI (EN) zeigt auf, warum dies ein Fall für die Europäische Staatsanwaltschaft ist.

Ein Schnellkurs im demokratischen Rückschritt findet nun auch in der Slowakei statt. In den letzten zehn Monaten hat die Regierung Fico IV in der Slowakei ihren Angriff auf demokratische Prinzipien intensiviert und damit tiefe Schwächen im Rechtssystem offengelegt. PETER ČUROŠ (EN) analysiert die vier Hauptstrategien der Regierung, um ihre Macht zu konsolidieren und die Zivilgesellschaft zu schwächen. MAX STEUER (EN) zeigt, wie die slowakische Gerichtsbarkeit in Kombination mit ihrer relativ isolierten doktrinären Rechtswissenschaft die Entwicklung eines robusten demokratischen verfassungsrechtlichen Diskurses behindern könnte.

Aber es gibt nicht nur Rückschritt, sondern auch Positives zu berichten: Polen, einst ein Land mit einer der höchsten Zahlen von Strategic Lawsuits Against Public Participation (SLAPP), könnte jetzt ein Beispiel dafür sein, wie man mit solchen Klagen umgehen kann. Wie das Erfolgsrezept aussehen könnte, haben sich DOMINIKA BYCHAWSKA-SINIARSKA und ZUZANNA NOWICKA (EN) angesehen.

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Das Center for Interdisciplinary Labour Law Studies (C*LLaS) an der Europa-Universität Viadrina sucht – unter anderem – eine:n Rechts- oder Sozialwissenschaftler:in für das deutsch-ukrainische BMBF-Projekt „Just Transition“ – 10h/Woche, Oktober/November 2024 bis September/Oktober 2026; eine Aufstockung auf 20h/Woche ist möglich.

Die Ausschreibung finden Sie hier. Die Bewerbungsfrist endet am 14.9.2024.

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Inzwischen sind über 900 Tage vergangen, seit Russland seinen sogenannten „dreitägigen Kreuzzug“ zur Eroberung Kyivs gestartet hat. ALINA CHERVIATSOVA (EN) zeigt, warum die Art und Weise, wie wir über Russlands Krieg gegen die Ukraine sprechen, von zentraler Bedeutung ist – nicht nur für die öffentliche Wahrnehmung des russischen Angriffskrieges, sondern auch für die Ebene der internationalen Politik.

Weiterhin ordnete am 7. August 2024 das thailändische Verfassungsgericht die Auflösung der Move Forward Party (MFP) an, der beliebtesten politischen Partei des Landes. Das Urteil steht in engem Zusammenhang mit einer Entscheidung aus dem Januar, in der das Gericht befand, dass eine Kampagne der MFP zur Änderung des Gesetzes über Majestätsbeleidigung einen Versuch darstelle, das „demokratische Regime mit dem König als Staatsoberhaupt“ zu stürzen, das aber ein grundlegendes Prinzip des thailändischen Staates sei. KHEMTHONG TONSAKULRUNGRUANG (EN) verortet die Entscheidung in dem lange schwelenden Konflikt über die Majestätsbeleidigung und die Reichweite der Meinungsfreiheit.

Mexiko steht kurz davor, eine Verfassungsänderung zu verabschieden, die darauf abzielt, die Justiz politisch unter Kontrolle zu bringen. Die anhaltenden und systematischen diffamierenden Angriffe des Präsidenten auf die Justiz waren entscheidend für die breite Akzeptanz und fehlende Opposition gegenüber der  Reform. JORGE GAXIOLA LAPPE (EN) argumentiert, dass dies die zunehmende Bedeutung institutioneller Diffamierung als Instrument des missbräuchlichen Konstitutionalismus verdeutlicht.

In unserem Digitalressort ging es diese Woche in einem Text von GIOVANNI DE GREGORIO und ORESTE POLLICINO (EN) wieder um den bereits viel besprochenen Digital Service Act (DSA). Der DSA erhöht die Rechenschaftspflichten für große Suchmaschinen und Online-Plattformen durch die Einführung eines Prüfungsprozesses. Dieser birgt so wie er ist aber die Gefahr, sich kontraproduktiv auf die Ziele der europäischen Politik auszuwirken.

Zu guter Letzt ging es bei uns diese Woche auch um Fußball. Bezüglich der Fußball-Transferregeln erklärt TSJALLE VAN DER BURG (EN), wie das bevorstehende Urteil des EuGH im Fall Diarra, basierend auf den Schlussanträgen des Generalanwalts, die bereits mit dem Bosman-Urteil eingeschlagene Richtung fortsetzen und das Transfersystem weiter schwächen könnte. Er argumentiert, dass beide Entscheidungen den Wettbewerb auf den Konsumgütermärkten vernachlässigen, was den kleineren Vereinen und den Fußballfans zugutekommt.

Wir haben zudem ein neues Symposium gestartet, das besonders die Jura-Studierenden unter unseren Leser:innen interessieren dürfte:

Dass das Jura-Studium verstaubt und reformbedürftig ist, ist inzwischen beinahe ein Gemeinplatz. Die Unzufriedenheit unter Studieren ist groß, die Klagen über Stress und Leistungsdruck nehmen zu – und die Stofffülle wächst trotzdem unerbittlich vor sich hin. Hinzu kommen gesellschaftliche und ökologische Krisen, die in der juristischen Ausbildung bislang allenfalls marginal abgebildet sind. Viele Gründe also, über die Kritik und Reform des Jurastudiums nachzudenken.

Auch in der zweiten Woche der Blog-Debatte “Wen es trifft” gehen verschiedene Autor:innen der Frage nach, welche Szenarien der Diskriminierung uns erwarten, wenn eine autoritär-populistische Partei wie die AfD in Regierungsverantwortung kommen würde, etwa im Staatsangehörigkeitsrecht, bei der geschlechtlichen Selbstbestimmung oder der Inklusion.

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Das wär’s für diese Woche! Ihnen alles Gute,

Ihr

Verfassungsblog-Team

 

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