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„Wir Wissenschaftler haben das nicht ausreichend erklärt“

„Wir Wissenschaftler haben das nicht ausreichend erklärt“

Katalin Karikó sitzt in ihrem Büro in einem Vorort von Philadelphia in den USA. An diesem Schreibtisch arbeite sie seit 20 Jahren, erzählt sie im Videocall. Dank ihrer Grundlagenforschung konnten während der Corona-Pandemie so schnell die mRNA-Impfstoffe von Biontech und Moderna entwickelt werden. Im vergangenen Jahr erhielt die Biochemikerin dafür den Nobelpreis.

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Während des Videogesprächs ist zu sehen, dass nicht nur zahlreiche Auszeichnungen, sondern auch Bücher den Raum schmücken. Eines zieht Karikó aus dem Regal: ein Bilderbuch für kleine Kinder auf Japanisch, das ihr Leben erzählt. Dann zeigt die 70-Jährige noch mehrere Bilder – eines, auf dem sie mit ihrer Tochter Susan, einer zweifachen Olympiasiegerin und mehrfachen Weltmeisterin im Rudern, für einen Marathon trainiert. Auf einem anderen ist sie mit ihrem Vater zu sehen, der früher als Metzger in der kleinen ungarischen Gemeinde Kisújszállás arbeitete. Und natürlich ist auch ein Bild dabei, auf dem sie im Labor sitzt.

Frau Karikó, Sie haben 2023 den Nobelpreis für Medizin erhalten und stehen seitdem so viel in der Öffentlichkeit wie noch nie. Haben Sie überhaupt noch Zeit zu forschen?

Als Wissenschaftlerin war ich immer sehr beschäftigt mit Laborarbeit – insbesondere in den vergangenen fünf Jahren. Niemand stellt da ein Mikrofon hin und stellt Fragen. Nachdem ich den Preis bekommen hatte, wusste ich also zunächst nicht, was ich zu sagen habe. Inzwischen ist mir klar, dass ich mit der Öffentlichkeit reden muss. Künftig möchte ich mich aber wieder mehr auf die Forschung konzentrieren.

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Katalin Karikó an ihrem Lieblingsort: im Labor. Hier zu sehen am Schrank für Gewebekulturen im Department of Uniformed Services an der University of Health Sciences in Bethesda, Maryland, 1989.

Katalin Karikó an ihrem Lieblingsort: im Labor. Hier zu sehen am Schrank für Gewebekulturen im Department of Uniformed Services an der University of Health Sciences in Bethesda, Maryland, 1989.

In Ihrer Autobiografie „Durchbruch. Mein Leben für die Forschung“ beschreiben Sie, dass Ihnen eine Sache schon immer klar war: Sie sind eine Suchende.

Ich habe nie gedacht: Oh, ich möchte erfolgreich sein. So viele Menschen leben das Leben anderer Menschen. Für mich ist nicht bestimmend, was andere denken. Ich weiß, was für mich das Richtige ist. Dass ich ausgerechnet an die Biochemie und insbesondere die mRNA-Forschung gelangte, war aber Zufall.

In den 1980ern ging das los. An der Universität Szeged in Ungarn arbeiteten Sie erstmals in einem Labor an der Synthese von RNA, bevor Sie schließlich in die USA nach Pennsylvania wechselten. Wollten Sie von Anfang an die Forschung dazu revolutionieren?

Ich bin keine Visionärin. Nach dem Biologiestudium war das Labor in Szeged der einzige Ort, an dem ich eine Stelle fand. Ich habe intensiv gelernt. Ich habe Artikel geschrieben und mehr und mehr über die Zusammenhänge gelernt. Daran hatte ich Spaß. Auch wenn mich niemand dafür bezahlte, las und forschte ich weiter, einfach weil ich mehr wissen wollte.

Katalin Karikó mit ihren Eltern im Hof ihres Hauses. In der ungarischen Gemeinde Kisújszállás, 1979. Der Vater arbeitete als Metzger, die Mutter als Buchhalterin.

Katalin Karikó mit ihren Eltern im Hof ihres Hauses. In der ungarischen Gemeinde Kisújszállás, 1979. Der Vater arbeitete als Metzger, die Mutter als Buchhalterin.

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Sie sind bekannt dafür, ständig und überall wissenschaftliche Artikel zu lesen – aus allen Fachrichtungen.

Je mehr Wissen ich bekomme, umso mehr denke ich darüber nach, worüber vielleicht noch nicht nachgedacht wurde. Je mehr Literatur ich kenne, je mehr ich im Labor ausprobiere, desto mehr Ideen kommen. 99 Prozent davon funktionieren nicht. Aber nach jedem Scheitern steht man eben wieder auf und versucht es weiter.

Und das, obwohl Ihre Vorgesetzten und Kollegen Sie immer wieder auf die großen Probleme hinwiesen: etwa, dass mRNA unbrauchbar wird, wenn man im Labor damit arbeitet. Dass das menschliche Immunsystem angegriffen wird, wenn man mRNA zur Therapie von Krankheiten nutzt.

Es gab noch so viel mehr Probleme. Man sagte mir, dass mRNA nur dann ein Medikament werden kann, wenn es für mindestens zwei Jahre haltbar bleibt. Man fragte mich, wie man mRNA für Tests bei Tieren anwenden sollte. Wie man damit etwas herstellen soll, das man in den Gefrierschrank legen kann. Glauben Sie mir: Ich habe sehr viele Sachen ausprobiert.

Um zu beweisen, dass mRNA für die Medizin nutzbar ist, schliefen Sie zeitweise sogar im Labor. Sie gingen da auch hin, obwohl Sie krank waren. Auch vier Monate nach der Geburt Ihrer Tochter waren Sie wieder im Einsatz. Und das, obwohl die Bezahlung nicht gut war und die Anstellung immer wieder unsicher. Was hat Sie angetrieben?

Eine Beförderung ist wirklich nicht so wichtig. Solange man das Experiment machen kann, wen kümmert da der Titel, das Gehalt? Wenn ich an Silvester oder Neujahr im Labor war, brauchte ich nicht ins Restaurant zu gehen. Meine Familie hat immer Gebrauchtwagen gekauft. Mein Mann hat unser Haus geputzt, wir sind nicht viel verreist.

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Katalin Karikó mit ihrem Ehemann Béla Francia, ihrer Tochter Susan Francia – und ihrem ersten Auto, einem Ford Pinto. Einen Monat, nachdem es von Ungarn in die USA ging. Philadelphia, Pennsylvania, 1985.

Katalin Karikó mit ihrem Ehemann Béla Francia, ihrer Tochter Susan Francia – und ihrem ersten Auto, einem Ford Pinto. Einen Monat, nachdem es von Ungarn in die USA ging. Philadelphia, Pennsylvania, 1985.

Was ist dann wichtig?

Es ist einfach ein unglaublicher Beruf, eine Forscherin zu sein. Ich mag es, mit meinen Händen zu arbeiten. Ich habe alle Experimente im Labor selbst gemacht. Jeden Abend, wenn ich nach Hause kam, habe ich mir gewünscht, schon ein wenig älter zu sein, um die Ergebnisse meiner Versuche bereits zu kennen. Heutzutage sitzen viele leitende Forschende im Büro, die Studierenden liefern ihnen die Laborergebnisse. Als ich mir meine Daten ansah, wusste ich, dass ich bestimmte Fehler nicht mehr machen würde – eben weil ich sie selbst gemacht hatte.

Der Durchbruch kam 2005: Sie fanden mit dem Immunologen Drew Weissman heraus, wie man nichtentzündliche modifizierte mRNA herstellt. Heute wissen wir: Das war der Grundstein für die Corona-Impfstoffe, die uns aus der Pandemie geholfen haben. Damals interessierte sich aber kaum jemand dafür. Haben Sie nie gezweifelt?

Vielen steht das Ego im Weg. Ich wollte das nicht. Ich war auch ohne jede Anerkennung glücklich, weil ich die Arbeit an sich genossen habe. Ich habe mir damals selbst auf die Schulter geklopft. Viele Menschen denken, dass Wissenschaftler sich abmühen und leiden. Ich sage nur: Nein, ich habe nicht gelitten. Wer versucht hat, mir das Leben schwer zu machen, hat mich widerstandsfähiger gemacht. Ich denke nicht darüber nach, was andere tun sollten. Was ich selbst tun kann, ist das Wichtigste.

Aber hatten Sie nie Sorge, dass das Potenzial Ihrer Entdeckung niemals genutzt würde?

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Ich war mir sicher, dass eines Tages jemand diese wichtigen Daten verwendet. Ich habe allerdings nicht damit gerechnet, dass das noch in meinem Leben passiert.

Wichtige Stationen

1955 wurde Katalin Karikó im ungarischen Szolnok geboren. 1973 begann sie ihr Biologiestudium an der Universität Szeged – und arbeitete dort Anfang der 1980er als Doktorandin erstmals an der Synthese von RNA. 1985 verlor das Labor die Finanzierung, die Biochemikerin fand eine Stelle an der Temple University in Philadelphia – und trieb an verschiedenen Standorten in den USA ihre Forschung voran. 1998 traf sie den Immunologen Drew Weissman, mit dem sie an der Entwicklung von Medikamenten mithilfe von mRNA forschte. 2012 wurde Karikó von der Universität Pennsylvania entlassen. Ihr Weg führte sie 2013 nach Mainz, wo sie schließlich beim Biotechnologieunternehmen Biontech bis 2022 als Senior Vice President arbeitete. Heute ist sie Professorin an der Universität Szeged in Ungarn.

Von der mRNA-Technologie ähnlich überzeugt wie Sie war Ugur Sahin, Begründer von Biontech. 2013 trafen Sie ihn zum ersten Mal in Mainz. Fiel es Ihnen leicht, sich für das Unternehmen in Deutschland zu entscheiden?

Als ich Ugur zum ersten Mal traf, spürte ich sofort: Okay, hier ist jetzt mein Platz. Ich ging nach Deutschland. Mein Mann ist in Pennsylvania geblieben, fünfmal im Jahr habe ich ihn für zwei Wochen besucht. Er versicherte mir: „Ich komme schon klar.“ 2018 waren wir jedenfalls so weit, einen Vertrag mit Pfizer abzuschließen, um einen mRNA-Impfstoff gegen Grippe zu entwickeln. Daran habe ich hauptsächlich gearbeitet. Der Covid-Impfstoff, da war Ugur der Visionär. Er hat sehr früh erkannt, dass sich das Coronavirus in der ganzen Welt verbreiten würde.

Katalin Karikó und Ugur Sahin, Mitgründer und CEO von Biontech, an dem Tag, als sie sich kennenlernten. Einige Monate später schloss sich Katalin Karikó dem Unternehmen an. Mainz, Deutschland, 2013.

Katalin Karikó und Ugur Sahin, Mitgründer und CEO von Biontech, an dem Tag, als sie sich kennenlernten. Einige Monate später schloss sich Katalin Karikó dem Unternehmen an. Mainz, Deutschland, 2013.

Als Sie die Nachricht erhielten, dass der Impfstoff zu 95 Prozent gegen die damals zirkulierende Corona-Variante wirkt, haben Sie sich da ausnahmsweise mal eine Pause gegönnt?

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Das war der 8. November 2020. Meine Tochter Susan hat am selben Tag Geburtstag. Ich war gerade zu Hause in den USA. Mein Mann und ich haben abends zusammen gefeiert und Erdnüsse mit Milchschokolade gegessen.

Es gab dann einige Menschen, die während der Pandemie an der Sicherheit der mRNA-Impfstoffe zweifelten. Hat Sie das überrascht?

Ich habe nicht damit gerechnet. Ich dachte, die großen klinischen Studien und eine Zulassung reichen aus. Die mRNA-Technologie gab es ja auch schon vor dem Covid-Impfstoff. Curevac hatte bereits weit fortgeschrittene Studien mit einem Mittel gegen Tollwut gemacht. Moderna auch, gegen Zika und Influenza.

Aber die meisten Menschen wussten nichts davon.

Genau. Sie sagten: Oh, das ist jetzt völlig neu und nicht erprobt. Und ich verstehe, dass man Angst hat, wenn etwas nicht verständlich ist. mRNA wird aber wirklich nicht in unser Genom eingebaut. Ich meine: Wir haben von Natur aus so viel RNA im Körper. Das baut sich ja auch nicht in die DNA ein. Wir injizieren nur RNA, die Proteine übersetzen kann, der größte Teil kann sich nicht einmal vermehren. Wir Wissenschaftler haben das nicht ausreichend erklärt. Daran müssen wir arbeiten.

Nicht jeder ist empfänglich für Erklärungen. Werden Sie angefeindet?

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Unter mehreren Hundert Mails und Briefen, in denen sich Leute für meine Arbeit bedanken, befindet sich auch mal eine nicht so nette. Wenn jemand aber eine aufrichtige Frage stellt, weil da zum Beispiel die Angst ist, vielleicht vom Impfstoff krank zu werden, antworte ich.

Wie funktioniert ein mRNA-Impfstoff gegen Covid-19?

Die mRNA-Impfstoffe enthalten Baupläne für das Spike-Protein. Dieses unterstützt dabei, dass die körpereigenen Antikörper das Virus im Fall einer Infektion bekämpfen können. Ist der Bauplan in den Körperzellen angekommen, baut er sich innerhalb von wenigen Tagen von selbst wieder ab. Die Impfstoff-mRNA verändert nicht das Genom des Menschen. Sie gelangt nicht in den Zellkern, wo die DNA sitzt, sondern nur in das Zellplasma. Dort hat der Mensch auch natürlicherweise mRNA.

Auch nach der Pandemie investieren große Unternehmen in die mRNA-Technologie. Was sind die großen Vorteile?

Mehr als 250 klinische Versuche laufen momentan. Zu RSV, HIV, Mpox, Borreliose, Tuberkulose. Auch zu Krebs und Herzkrankheiten. mRNA-Therapien können auf sehr viele Krankheiten angewandt werden. Es gibt Ansätze, wo Patienten sofort nach einer Operation eine speziell auf sie zugeschnittene Behandlung bekommen. In der Herstellung sind auf mRNA basierte Mittel viel billiger als Proteinprodukte. Man kann damit auch multivalente Impfstoffe herstellen, die gegen verschiedene Erreger gleichzeitig wirken.

Früher habe ich mir immer vorgestellt, dass vielleicht eines Tages jeder ein bisschen RNA im Kühlschrank liegen hat.

Was ist inzwischen Ihre Vision, wenn Sie an zukünftige mRNA-Therapien denken?

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Früher habe ich mir immer vorgestellt, dass vielleicht eines Tages jeder ein bisschen RNA im Kühlschrank liegen hat. Wenn man sich beispielsweise die Hand verbrannt hat, davon einfach ein bisschen etwas auf die Haut packt, und die Verletzung verschwindet. Heute traue ich mich zu sagen: Es wird auf jeden Fall mehr zugelassene Medikamente geben. Es braucht nur Zeit für die Forschung. Dafür, unser Immunsystem, die Krankheiten selbst und die für die mRNA relevanten Proteine besser zu verstehen. Das hängt natürlich auch am Geld.

Die Autobiografie „Durchbruch. Mein Leben für die Forschung“ (btb Verlag, 24 Euro) von Katalin Karikó ist mittlerweile auch auf Deutsch übersetzt.

Die Autobiografie „Durchbruch. Mein Leben für die Forschung“ (btb Verlag, 24 Euro) von Katalin Karikó ist mittlerweile auch auf Deutsch übersetzt.

Wenn Sie die Entwicklung der mRNA-Technologie in den letzten Jahren sehen, macht Sie das auch ein bisschen stolz?

Ich habe nicht das Gefühl: Oh, ich war das. Das war Mannschaftssport. All die Wissenschaftler und ihre Arbeiten. Die Leute bei Moderna, Biontech, Pfizer. All die Unternehmen, die auf dem Gebiet arbeiten. Ich bin sehr froh, dass mRNA jetzt wirklich Patienten nützt. Mir ist wichtig, dass die Herstellung erschwinglich ist. Es gibt heutzutage auch Medikamente, die eine Million Dollar kosten. Die bringen dann kaum jemandem etwas.