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Anne Applebaum: Verlockung des Autoritären

Anne Applebaum: Verlockung des Autoritären

20.10.24 – Anne Applebaum wird heute, am 20. Oktober 2024, mit dem Friedenspreis des Dt. Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche ausgezeichnet. Ihre Bücher sind “so tiefgründige wie horizonterweiternde Analysen der kommunistischen und postkommunistischen Systeme”, heißt es in der Begründung des Stiftungsrats. Anne Applebaum legt schonungslos offen, wie die Mechanismen autoritärer Machtergreifung funktionieren.

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Cover „Die Verlockung des Autoritären“ © Wikipedia / Hb19821970, CC BY-SA 3.0

Sie zeigt, wie fragil demokratische Gesellschaften sind, weil Desinformation und Propaganda verheerende Wirkungen entfalten können. Besonders dann, wenn Demokratien von innen ausgehöhlt werden. Das erleben wir zur Zeit in vielen europäischen Ländern – in Deutschland arbeitet die AfD heftig am Untergang der Demokratie. Und die vier Jahre mit Donald Trump als US-Präsident haben wir sicher auch noch in schlechter Erinnerung. Alle Autokraten eint: sie sind Menschenverächter, sie sind Populisten, sie sind zutiefst korrupt, sie interessiert nur die eigene Macht und der eigene Kontostand.

Cover „Die Verlockung des Autoritären“ © Pantheon Books

Anne Applebaums oft schonungslose Analysen lösen oft heftigen Widerspruch aus, und zwar bei westlichen Beschwichtigern genauso wie bei östlichen Nationalisten, konstatierte das Börsenblatt: “Gerade weil sie das Fortleben des brutalen sowjetischen Expansionsdrangs (samt des hiesigen Köhlerglaubens, dieser ließe sich allein durch Dialog und ‘Friedensangebote’ domestizieren) so eloquent wie faktengestützt dokumentiert, wird der Blick geschärft auch für jene Gefahren, die im ­Inneren der Demokratien lauern.” (Börsenblatt, 09.09.2024)

Der Aufstieg der starken Männer?

Trump als US-Präsident mit Angela Merkel – sowie seiner Tochter Ivanka und deren …© Wikipedia / The White House from Washington, DC (Official White House Photo by Shealah Craighead) – Foreign Leader Visits,

Anne Applebaums Buch “Die Verlockung des Autoritären” hat eine Relevanz, die wie ein Schlag in die Magengrube ist. Die polnisch-amerikanische Historikerin geht der Frage nach, warum Männer wie Orbàn, Kaczynksi, Johnson oder Trump so ostentativ anti-liberal sind und demokratische Institutionen verachten. Denn sie alle sind ja durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen. Der deutsche Untertitel ist deshalb irreführend, im Original ist sehr viel treffender von der “verführerischen Kraft des Autoritären” die Rede. Es handelt sich um ein fast ausschließlich männliches Syndrom und System. Es gibt wenige Frauen in diesem Dunstkreis, diese Männerwelt ist abgeschotteter als ein Londoner Herrenclub.

Aufstand der Abgehängten

Die Herren bleiben gern unter sich. Sie halten sich für mächtig und klug, aber Anne Applebaum kommt zu einem vernichtenden Urteil: Außerhalb ihrer aktuellen Positionen hat keiner von ihnen Vorzeigbares auf dem Zettel. Das aber widersprach dem Selbstbild von Stärke.

Boris Johnson mag beileibe nicht jeder im Königreich © Emphyrio/Pixabay

In populistischen Systemen geht es nicht mehr um Know-how und Erfahrung, meistens nicht einmal mehr um Politik und Ideologie, sondern um Posten. Wer buckelt, schleimt und funktioniert, steigt auf. Wer sich verwehrt, wird diffamiert und mundtot gemacht. Insbesondere auf Intellektuelle donnert ein Eliten-Bashing hernieder, gleiches erleben renommierte Institutionen und Allianzen von Nato bis UNO. Mit ins autoritäre Portfolio gehört die Verachtung oder Verfolgung von Minderheiten (sexuelle genauso wie ethnische). Die Rechtfertigung ist die immer gleiche: Die Entrechtung einiger sei die “Stimme des Volkes” und daher richtig, weil eine nationale Angelegenheit. Gern verbrämt man alles mit religiösen Versatzstücken – in der Regel aus der ultrakonservativen Ecke. Schauen Sie sich an, wie Evangelikale weltweit argumentieren – es ist kurz vorm Hirntod.

Legenden und Sündenböcke

Ein Wahlplakat, das 2016 mit einer von Johnsons Lügen für den Austritt Großbritanniens …© Wikipedia / Rossographer, CC BY-SA 2.0

Populistische Bewegungen beginnen oft mit einer Legende. Ein historisches Ereignis wird so lange geknetet und interpretiert, bis es kaum noch wiederzuerkennen ist, aber ins neue politische Raster passt. In Polen etwa war das der Flugzeugabsturz des einen Kaczynski-Zwillings. Sein Flugzeug stürzte 2010 beim Landenanflug auf den Flughafen Smolensk ab, es gab keine Überlebenden. Die Fakten waren klar: Lech Kaczyński hatte die Piloten genötigt, trotz mieser Wetterbedingungen weiterzufliegen, statt umzukehren. Immerhin ging es um die Gedenkfeier zu Ehren der ermordeten polnischen Offiziere in Katyn. Bei Umkehr und Anreise mit Auto oder Bahn wäre er zu spät gekommen. Diese Wahrheit erschien der polnischen Regierung untragbar. So wurde die Geschichte verändert, in der bald finstere Mächte, Verschwörer und Polen-Feinde die Hauptrolle spielten. Keine Legende kommt ohne Sündenböcke aus.

Ein Bild, das wirklich spooky ist – Trump mit dem ägyptischen Präsidenten al-Sisi …© Wikipedia / The White House from Washington, DC, President Trump’s Trip Abroad,

Ähnliches konnte und kann man in dem Teil Amerikas beobachten, der Trump-hörig ist. Da ist die Mär vom sogenannten “deep state”, den es zu beseitigen gilt. Trump wähnt die USA von Feinden umstellt, die er unter den Alliierten, nicht etwa unter den Feinden sucht. Trump fühlt sich besonders wohl in der Gesellschaft von Diktatoren. Natürlich kann einer wie Trump eine Niederlage nicht akzeptieren: Deshalb gibt‘s die Legende von der gestohlenen Wahl.

Ausgrenzung und Entrechtung

Wenn Legenden als Wahrheit gelten, muss die Wirklichkeit angepasst werden. In den USA versuchen die Republikaner, über Wahlgesetze Menschen, die sie nicht wählen, von den Wahlurnen fernzuhalten. Eine Partei, deren Politik die Mehrheit der Amerikaner nicht mehr überzeugt und die aufgrund des fortschreitenden demographischen Wandels zukünftig weniger Gewicht haben wird, klammert sich an die Macht, indem sie Wähler:innen einfach ausschließt. Dafür ist ihr jeder Trick recht: Geschlossene Wahllokale, verkürzte Wahltage, bürokratischer Irrsinn bei der Stimmabgabe, Verhindern der Briefwahl etc.

Autokraten unter sich – Trump und der nordkoreanische Führer Kim Jong-un in Singapur …© Wikipedia / Shealah Craighead, https://twitter.com/photowhitehouse/status/1006601044539920385

In Boris Johnsons Brexit-Großbritannien, dem Applebaum ein höchst amüsant zu lesendes Kapitel widmet, wird die EU zum Bösewicht. Johnson scheute sich nicht davor, Lügen en masse zu verbreiten, die alle auf dieselbe einfache Formel hinausliefen: Wenn UK erst mal raus aus der EU sei, würde die alte “Rule, Britannia, rule the waves-Herrlichkeit” wie Phönix aus der Asche erstehen. Wir erleben, was für ein Schwachsinn das ist. Der Brexit hat Großbritannien ungeheuren Schaden zugefügt. Anne Applebaum weist darauf hin, dass die sogenannten starken Männern ein Umfeld eilfertiger, liebedienerischer Angestellter brauchen – die Umschwünge und Umstürze erst ermöglichen. Diese Jasager und Mitläufer legen diensteifrig die Axt an die Demokratie. Nicht aus politischer Überzeugung, sondern aus schierem Eigennutz.

Populismus ist geistige Schlichtheit

Ziemlich beste Freunde – Vladimir Putin und Viktor Orbán (2015) © Wikipedia / Kremlin.ru, CC BY 4.0

Der Kreis jener, die komplexe Antworten nicht (mehr) aushalten können, scheint zu wachsen. Anne Applebaum scheut sich nicht zuzuspitzen und sagt, die Lust auf autoritäre Vereinfachungen sei nichts anderes als geistige Schlichtheit: “Viele Menschen fühlen sich zum autoritärem Denken hingezogen, weil sie keine Lust haben, sich auf Komplexität einzulassen. Sie mögen keine Diskussionen, sie wünschen sich Einigkeiten. Bei einer plötzlichen Konfrontation mit Vielfalt, sei es von Meinungen oder Erfahrungen, verlieren sie die Fassung.”

Komplexität hat viele Gründe – etwa den demographische Wandel, Migration, unterschiedliche Lebensweisen, die Ungleichheit von Einkommen und Wohlstand, die zunehmende Technologisierung und Digitalisierung der Welt. All das kann Wut und Angst auslösen. Die Polarisierung nimmt zu, und irgendwann redet man nicht mehr miteinander, da sich jede Seite im Besitz der Wahrheit glaubt. Das eigene Weltbild wird nicht mehr hinterfragt. Das Verständnis für Kompromiss und Konsens schwindet, der Respekt für Andersdenkende erst recht. Der Grundton ist ein tiefsitzender Pessimismus und die Überzeugung, einem würde Unrecht getan. Schuld sind natürlich immer die anderen. Eines der ersten Opfer populistischer Bewegungen ist immer der Gemeinsinn, und gleich dahinter kommt der gesunde Menschenverstand. Schauen Sie sich eine Rallye von Donald Trump an – sie funktioniert nach genau diesem Muster.

Die Kraft und Ermutigung dieses klarsichtigen Buchs liegt darin, dass wir alle es selbst in der Hand haben, auf welcher Seite wir stehen möchten. Bleiben Sie wach und aufmerksam, und lassen Sie sich von den populistischen Rattenfängern nicht einlullen – Anne Applebaums Buch ist genau das richtige Resilienztraining dafür.

Foto: Nicole Dietzel, Dinias

(Jutta Hamberger)+++

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