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9 Jahre Panik vor dem Jobcenter – dann wird alles anders

FOCUS online: Sarhuna, Sie beziehen Bürgergeld, Ihr Mann auch …  

Sarhuna: Ich kann mir denken, was Sie gleich fragen.  

Was denn?  

Sarhuna: Beim Thema Bürgergeld wird ja gerade viel über Arbeitsverweigerung gesprochen. Und dann ist es in unserem Fall auch noch so, dass wir zu zweit sind …  

Was kommt Ihnen denn in den Sinn, wenn Sie das hören – „Arbeitsverweigerung“?  

Sarhuna: Was die Leute auf der Straße denken, ist das eine. Aber auch beim Jobcenter haben viele dieses Vorurteil. Ich habe bei all den wechselnden Sachbearbeitern nichts als Druck erlebt. Kein Wunder hat das regelrecht Panik in mir ausgelöst, als Anfang des Jahres auf einmal eine Beraterin vom Jobcenter bei uns vor der Tür stand und geklingelt hat.                        

„Nach neun Jahren Kontakt mit dem Jobcenter ist es das erste Mal, dass ich das so erlebe“

Wie haben Sie reagiert?  

Sarhuna: Ich war nicht da, war gerade bei meiner Mama. Mein Mann rief mich an, und ich dachte, ich drehe durch. „Die Frau sagt, sie will uns helfen“, hat mein Mann gesagt. Aber das glaubt man natürlich erst mal nicht. Die Beraterin war ziemlich hartnäckig, kam wieder und wieder. Inzwischen kann ich sagen: Sie meint das ernst, sie will wirklich helfen. Nach neun Jahren Kontakt mit dem Jobcenter ist es das erste Mal, dass ich das so erlebe.  

Sie müssten dann mit 26 erstmals mit dem Jobcenter in Kontakt gekommen sein. Warum?  

Sarhuna: Das war eine schwierige Zeit, da kamen mehrere Dinge zusammen. Ich habe von Geburt an einen komplizierten Herzfehler, bin daher einerseits nicht so leistungsfähig wie andere.  

Warum einerseits?  

Sarhuna: Tief in mir drinnen steckt eine Kämpferin. Andere hätten vielleicht klein beigegeben bei dem, was ich damals erlebt habe. Eine heftige Auseinandersetzung in der Familie, ein richtiger Kampf. Ich habe dagegengehalten.  

Möchten Sie erzählen, was los war?  

Sarhuna: Ganz kurz: Meine Eltern kommen aus Afghanistan. Bei uns ist es so, dass sich die älteste Schwester um die Jüngste kümmert. Ich bin die Jüngste. Meine große Schwester wollte mich verheiraten. Die Verlobung war schon arrangiert. Es war ein Kraftakt, mich aus dieser Situation zu befreien. Man hat natürlich Angst, dass die ganze Familie sich gegen einen stellt. Zum Glück ist es am Ende nicht so gekommen. Trotzdem war ich ein Wrack, als das alles einigermaßen durch war.  

Sie waren nicht mehr arbeitsfähig, wollen Sie damit sagen?  

Sarhuna: Die Belastung hat sich definitiv auf mein Herz ausgewirkt. Auch die ganzen anderen Belastungen der letzten Jahre. Im vergangenen Jahr wurde bei mir zusätzlich zum Herzfehler auch noch eine Herzschwäche festgestellt. Mein Herz bringt jetzt phasenweise nicht mal mehr die Hälfte der normalen Leistung. Das heißt, ich muss wirklich gut auf mich aufpassen. Seit 2019 bin ich berentet. Laut Rentenbescheid darf ich nur noch 3 Stunden am Tag arbeiten.  

“Die will doch gar nicht“

Aber damals, mit 26, waren Sie – zumindest auf dem Papier – noch voll arbeitsfähig, richtig?  

Sarhuna: Ja, das stimmt. Im Jobcenter wollte mir niemand glauben, wenn ich von meinen Problemen erzählt habe. Da war immer so ein Unterton: „Die will doch gar nicht“. Nach dem Motto: Die hat schon ihre Ausbildung nicht beendet.  

Was für eine Ausbildung?  

Sarhuna: Ich wollte mal Hebamme werden. Aber wegen der beschriebenen Probleme habe ich es nicht gepackt. Eine Zeit lang hatte ich Depressionen. Ich hätte Hilfe gebraucht, Unterstützung. Aber jedes Mal, wenn ich vom Jobcenter kam, fühlte ich mich mies. Mit dem zunehmenden Druck wuchsen auch die Selbstzweifel und die Versagensängste und irgendwann die heimliche Aggression gegen das Jobcenter. Ein Teufelskreis. Druck erzeugt Gegendruck …  

Manch einer dürfte sich an der Stelle bestätigt fühlen und sagen: Genauso klingt Verweigerung.  

Sarhuna: Das sagt sich leicht, wenn man noch nie in dieser Situation war. Als würde das Spaß machen, ständig wie auf der Flucht zu sein.  

Vor wem?  

Sarhuna: Vor dem Jobcenter, wo man es offensichtlich cool findet, die Menschen vor sich herzutreiben. Jedes Schreiben, das kommt, eine Forderung – manchmal fast eine Anklage. Es gibt Sachbearbeiter, die spielen Spielchen mit dir und scheinen das richtig zu genießen.  

Ein Beispiel?  

Sarhuna: Bledar und ich haben 2016 geheiratet, sind also seitdem eine Bedarfsgemeinschaft. Mein Mann kommt aus Albanien …  

Und darf dank der Heirat hier in Deutschland bleiben?  

Sarhuna: Genau. Bledar ist meine große Liebe und nach allem, was ich durchgemacht habe ein Geschenk. Leider wird auch er vom Jobcenter schikaniert.  

„Ich war naiv“

Was meinen Sie?  

Sarhuna: Zum Beispiel die Anzeige wegen Schwarzarbeit, die er bekommen hat, nachdem er eine Weile im Straßenbau tätig war. Ich weiß, es gibt nicht wenige, die sowas machen. Aber in unserem Fall lag es schlichtweg an Dokumenten, die dem Amt gefehlt haben. Angeblich. Dabei hatte ich alles geschickt: Bledars Arbeitsvertrag, die Lohnabrechnungen … Ich habe sogar eine Eingangsbestätigung bekommen, per E-Mail. Dann ist alles in Ordnung, dachte ich. Ich war naiv, denn die Eingangsbestätigung sagt gar nichts. Nur, dass irgendetwas eingegangen ist. Nicht, ob alles vollständig ist.  

Waren die Dokumente denn unvollständig?  

Sarhuna: Die beim Jobcenter haben das jedenfalls behauptet. Ich verstehe das nicht: Statt dass da mal jemand zum Hörer greift und von Mensch zu Mensch mit dir spricht, schreiben die Briefe. Neue Forderungen, neuer Druck. Immer nur Druck, Druck, Druck.   

Schauen Sie, wegen meiner Erkrankung habe ich stark mit Ängsten zu tun. Durchs Jobcenter sind diese Ängste riesig geworden. So groß, dass ich in meiner Verzweiflung gesagt habe: „Ok, ich mach das“.

Was?  

Sarhuna: Den Job im Casino. Vor etwa fünf Jahren war das. Ich schob Nachtschichten bis morgens um zwei, super anstrengend. Eigentlich klar, dass das nichts wird. Genauso der Job im Callcenter.  

War der auch zu anstrengend?  

Sarhuna: Nein, mir hat dieser Job sehr gefallen. Aber meinem Herzen leider nicht. Ich war im technischen Service, hatte viel mit Menschen zu tun, konnte sitzen – an sich gute Bedingungen. Aber in der Sache war es schwierig. Es kann doch nicht sein, dass man älteren Leuten, die gar kein Internet haben, Online-Verträge unterjubeln soll.   

Diesmal war es mein Gewissen, das sich gemeldet und Druck gemacht hat. Für meine Gesundheit absolut kontraproduktiv. Als 2023 die Herzschwäche diagnostiziert wurde, brachte die Ärztin es auf den Punkt: „Sie haben zu viel Stress.“

Meinte die Ärztin die Jobs im Casino und im Callcenter?  

Sarhuna: Nein, die lagen da bereits eine Weile zurück. Die Quittung dafür habe ich schon früher bekommen. 2019, mit der Berentung.  

Wegen des Herzfehlers?  

Sarhuna: Unter anderem. Gesundheitlich habe ich mittlerweile ziemlich viele Baustellen. Diabetes, Bluthochdruck, eine chronische Schmerzerkrankung. Dazu Depressionen. Generell bin ich, wie gesagt, kein Mensch, der schnell aufgibt. Aber nach der Sache mit dem Casino und dem Callcenter und als dann auch noch dieses dramatische Ereignis kam, war erst mal Schluss …  

Was war denn so dramatisch?  

Sarhuna: Das war im Jahr 2020. Ich war so durch den Wind, dass ich mir zweimal hintereinander Insulin gespritzt habe. Eine lebensgefährliche Situation, ich hätte ins Koma fallen können. Als ich den Fehler bemerkte, rief ich den Rettungswagen, der kam gerade noch mal rechtzeitig. Mein Hausarzt hat die Reißleine gezogen und gesagt, dass es so nicht weitergeht. Erst haben wir es mit einem Pflegedienst versucht …  

„Als die Beraterin vom Jobcenter vor unserer Tür stand, war das der Wendepunkt zum Positiven hin“

Warum brauchen Sie den?  

Sarhuna: Fragen Sie besser, warum ich ihn gebraucht hätte. Ich brauche Hilfe beim Anziehen der Thrombosestrümpfe. Morgens, wenn ich den Arm vor lauter Schmerzen noch nicht richtig heben kann, ist es gut, wenn mir jemand die Tabletten reicht. An schlechten Tagen, wenn ich nicht auf die Füße komme, muss mir jemand den Rollstuhl ans Bett bringen.   

Die Leute vom medizinischen Dienst haben nur das Nötigste gemacht. Deshalb haben Bledar und ich beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Seit 2020 versorgt mich mein Mann, dafür bekommen wir Pflegegeld. Bledar macht alles: den Haushalt, die Einkäufe, das Gerät für den 24-Stunden-EKG checken, vor allem nachts …

Das heißt, Ihr Mann arbeitet zurzeit nicht?  

Sarhuna: Nein, wir beziehen, wie gesagt, beide Bürgergeld. Für Bledar ist es wegen seiner schlechten Deutschkenntnisse manchmal noch schwieriger als für mich, auf Hilfe angewiesen zu sein. Das Amtsdeutsch der Briefe überfordert ihn, auch er gerät dann schon mal in Panik. Wie es ihm ging, als eines Tages die Beraterin vom Jobcenter vor unserer Tür stand, können Sie sich vermutlich vorstellen. Dabei war das der Wendepunkt. Zum Positiven hin.  

Erzählen Sie.  

Sarhuna: Wie gesagt, die Frau meint es wirklich ernst. Sie kam ohne Vorurteile, hat sich ein Bild von der Situation gemacht und uns verstanden. Daher konnten wir ehrlich sein. Ich habe zum Beispiel zugegeben, dass ich zuletzt viele Briefe vom Jobcenter gar nicht geöffnet habe, aus Angst. Und ich habe gesagt, dass sich alles in mir zusammenschnürt, wenn ich nur den Namen des Sachbearbeiters höre, dem ich gerade zugeteilt bin.  

Und dann?  

Sarhuna: Ist sie mit mir gemeinsam zu dem Mann hin. Das Gespräch lief komplett anders als befürchtet. Kein „Wenn du dies nicht tust, passiert jenes“. Kein Drohen, kein Druck. Stattdessen durfte ich erzählen. Eine Freundin von mir arbeitet schon länger in einem Supermarkt. Von ihr wusste ich, dass es nicht leicht ist, Leute für die Kasse zu kriegen. Plötzlich stand diese Idee für mich im Raum: Supermarkt, Kasse. Tatsächlich arbeite ich hier nun seit April zweimal die Woche. Zum ersten Mal im Leben habe ich richtig Spaß an der Arbeit!  

„Wir fühlen uns nicht mehr gegängelt, sondern gesehen“

Woran liegt das?  

Sarhuna: Definitiv mit an der Beraterin. Die hat ein Gespräch mit dem Filialleiter geführt. Er weiß von meinen Krankheiten und ist sehr verständnisvoll. Neulich hatte ich mal einen schlechten Tag, ich dachte: Ich pack das hier alles nicht. Über die Kamera hat mein Chef gesehen, was los war und mich direkt auf dem Handy angerufen. „Nimm die letzte Kundin, nimm dir was Kaltes zu trinken, komm nach hinten und setz dich hin“, sagte er. Wenn es nicht besser würde, solle ich gehen und morgen wiederkommen.  

Und?  

Sarhuna: Nach einer kurzen Pause ging es wieder – verrückt, oder?  

Was?  

Sarhuna: Dass es jetzt, wo der Druck weg ist, so gut läuft für Bledar und mich. Wir fühlen uns nicht mehr gegängelt, sondern gesehen. Die Beraterin vom Jobcenter findet es sogar gut, dass Bledar stundenweise ins Fitnessstudio geht.  

Was sollte sie dagegen haben?  

Sarhuna: Na ja, andere kommen an der Stelle mit Sprüchen wie „wenn er für sowas Zeit und Kraft hat, dann kann er ja wohl auch arbeiten gehen“.  

Und was sagt die Beraterin?  

Sarhuna: Dass es wichtig ist, dass Bledar einen Ausgleich hat, schließlich ist er die meiste Zeit des Tages und oft auch nachts für mich im Einsatz. Eins nach dem anderen, sage ich immer, es muss sich jetzt erst mal alles stabilisieren bei uns – dann können wir insgesamt hoffentlich wieder mehr nach vorne schauen.  

Klingen da Pläne für die Zukunft an?  

Sarhuna: Unten bei uns im Haus steht ein kleiner Laden leer. Zurzeit spielen wir mit dem Gedanken, dass Bledar sich selbstständig macht. Ein kleiner Imbiss vielleicht. Er wäre ja weiter in meiner Nähe … eigentlich optimal.  

Wir haben einen Horror vor den geplanten Verschärfungen beim Bürgergeld“

Auch, weil Sie damit finanziell besser dastünden?  

Sarhuna: Das ist nicht das Thema. Die rund 200 Euro, die ich für die Arbeit im Supermarkt bekomme, werden angerechnet, genauso wie die Erwerbsminderungsrente von 217 Euro. Vor meinem Job haben wir monatlich zusammen 890 Euro bekommen. Jetzt sind es 690 Euro plus der Job. Unterm Strich bleibt es sich also gleich.  

Und das Pflegegeld?  

Sarhuna: Sie haben recht, das kommt noch dazu. Das sind 572 Euro. Klingt viel, allerdings gehen davon um die 200 Euro monatlich ab, für Medikamente und andere medizinische Maßnahmen, die die Krankenkasse nicht übernimmt.  

Aber unterm Strich haben Sie dennoch mehr als andere Bürgergeldempfänger?  

Sarhuna: Im Moment können wir nicht klagen, das stimmt. Es gab eine Zeit, da wollte ich am liebsten tot sein. Jetzt feiere ich, feiern wir das Leben. Nur eines, das belastet uns im Moment ziemlich.  

Nämlich?  

Sarhuna: Wir haben einen Horror vor den geplanten Verschärfungen beim Bürgergeld. Wir haben so viele Jahre krassen Druck hinter uns und nun geht es uns endlich, endlich besser. Aber wenn ich es richtig verstehe, plant die Politik gerade eine Rolle rückwärts.  

Zumindest kommen Sanktionen zum Beispiel für den Fall, dass vom Jobcenter vorgeschlagene Tätigkeiten nicht angenommen werden.  

Sarhuna: Und was heißt das genau? Stellt man mich dann wieder als Simulantin hin? Und Bledar als Abzocker? Und was ist mit der Beraterin vom Jobcenter, mit der wir im Moment jede Woche in Kontakt sind? Werden solche Leute dann überhaupt noch bezahlt? „Mein Sonnenschein“, sage ich immer, wenn wir uns sehen. Verrückt, oder? Dass ich sowas sage. Zu jemandem vom Jobcenter!