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Amerikas Juden sind das Zünglein an der Wahl-Waage

Amerikas Juden sind das Zünglein an der Wahl-Waage

Atlanta. Jacky Rosen ist fassungslos. „Gerade in einer Zeit, in der sich jüdische Familien in Amerika um ihre Zukunft sorgen, in der sie Angst um unser Land haben und um den Platz, den wir als jüdische Amerikaner noch darin haben“, seufzt die bekannte US-Senatorin aus Nevada, „gerade jetzt ist es mir – um es vorsichtig auszudrücken – unbegreiflich, dass Donald Trump als republikanischer Präsidentschaftskandidat ganz offen Nazi-Generäle gelobt und sich gewünscht hat, er hätte, Zitat, auch solche Generäle wie Hitler sie hatte.“

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Rosen spricht bei einem Presse- und Wahlkampfauftritt, den das Jewish Democratic Council, die jüdischen Unterstützer der Demokraten, einberufen hat. Die Senatorin schimpft vor allem auf Trump, nennt dessen Bemerkungen „mehr als beleidigend“ und eine „Verharmlosung des Holocaust“.

Senatorin Jacky Rosen aus dem Swing State Nevada: "Besorgt, welchen Platz wir jüdischen Amerikanern im Land noch haben".

Senatorin Jacky Rosen aus dem Swing State Nevada: „Besorgt, welchen Platz wir jüdischen Amerikanern im Land noch haben”.

Doch ihre Fassungslosigkeit reicht weiter, auch wenn Rosen das in ihrem Statement nur andeutet: Wie kann es sein, dass dieser Trump, der seine Karriere auf der Beleidigung und Ausgrenzung von Minderheiten aufgebaut hat, überhaupt wieder eine realistische Chance auf einen Wahlsieg hat?

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Und, schlimmer noch: Warum gibt es sogar jüdische Unterstützer seiner Kandidatur – obwohl doch die Juden nicht nur in den USA selbst eine Minderheit sind, sondern auch wissen müssten, dass die autokratischen Züge Trumps auch ihnen gefährlich werden könnten?

Vergleiche zu den Nazis

Es ist tatsächlich überraschend – und dennoch wahr: Zwar führen die Juden in der Demokratischen Partei ganze Listen von Trump-Äußerungen an, die sie für gefährlich halten – darunter seine wiederholte Drohung mit Militäreinsätzen gegen „Feinde im Inneren“. Zwar fiel vielen von ihnen – so wie Trumps Ex-Gegnerin Hillary Clinton – zu seiner Wahlkampfshow im New Yorker Madison Square Garden, die einer Parade von rassistischen und sexistischen Ausfällen glich, der Vergleich zu einer Nazi-Kundgebung ein, die im Jahr 1939 das gleiche Stadion füllte.

Und doch freuen sich die versprengten Grüppchen von Juden in der Republikanischen Partei einem nie gekannten Zulauf. „Wir sehen in der jüdischen Gemeinde seit Langem eine Bewegung hin zur Republikanischen Partei“, erklärte jüngst Sam Markstein von der Republican Jewish Coalition. Grund seien der 7. Oktober 2023, wachsender Antisemitismus in den USA und die Außenpolitik der scheidenden Regierung.

Die klare Mehrheit unter den Juden bröckelt

In Wahrheit ist es bei den Juden freilich wie bei allen Minderheiten in den USA: So wie unter Afroamerikanern und Latinos unterstützt auch unter den Juden nach wie vor eine klare Mehrheit die Demokraten. 2020 wählten sie zu 70 Prozent Joe Biden, und laut einer neuen Pew-Umfrage wollen es auch bei Kamala Harris zwei Drittel der US-Juden so halten.

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Doch wie bei Schwarzen und Hispanics wächst auch unter den jüdischen Wählerinnen und Wählern die Zahl derer, die sich von Kamala Harris ab- und Donald Trump zuwenden. „Wenn ich höre, dass sie die wundervolle Trump-Rally in New York als Nazi-Kundgebung bezeichnen“, schimpfte am Donnerstagabend bei einem Treffen von republikanischen Wahlkämpfern in Atlanta, Georgia, ein Trump-Fan, der sich als „stolzer amerikanischer Jude“ vorstellte, „dann kann ich nur sagen: Als Jude fühle ich mich auf solchen Nazi-Kundgebungen heutzutage sicherer als auf einem amerikanischen Universitätscampus!“

Treffen von republikanischen Wahlkämpfern in Atlanta (Georgia): "Ich bin selbst ein stolzer amerikanischer Jude", sagt der Trump-Fan, der hier mit afroamerikanischen Mitstreitern posiert.

Treffen von republikanischen Wahlkämpfern in Atlanta (Georgia): „Ich bin selbst ein stolzer amerikanischer Jude”, sagt der Trump-Fan, der hier mit afroamerikanischen Mitstreitern posiert.

Tatsächlich ist die Präsidentschaftswahl in diesem Jahr für viele jüdischen Wählerinnen und Wähler anders als vorherige: Seit der Hamas-Attacke auf israelischem Boden vom 7. Oktober 2023 fühlen sie sich auch in den Vereinigten Staaten isolierter und unsicherer denn je. Die anti-israelischen Proteste in vielen amerikanischen Städten, vor allem an und vor den Universitäten, waren monatelang in den US-Nachrichten. Immer wieder kippte der Protest gegen Israels Kriegsführung dabei in Pro-Hamas-Demos und antisemitische Vorfälle.

Kamala Harris ist dabei in einer Zwickmühle: Traditionell steht auch ihre Partei für eine bedingungslose Unterstützung Israels. Doch inzwischen fordert sowohl der linke Flügel der Demokraten, als auch die arabisch-amerikanische Community – die ebenfalls traditionell demokratisch wählt –, sie müsse klar von Israel abrücken und sich stärker gegen Menschenrechtsverletzungen im Gaza-Krieg aussprechen.

Israel führt Luftangriffe auf die südlichen Vororte Beiruts durch

Zum ersten Mal seit fast einer Woche hat es am Freitag wieder israelische Luftangriffe auf südliche Vororte der libanesischen Hauptstadt Beirut gegeben.

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Die scheidende Regierung von Präsident Joe Biden hat versucht, die anhaltende Unterstützung für Israel mit Friedensappellen an Premier Benjamin Netanjahu zu verbinden; die Empörung über das Hamas-Massaker mit dem Mitgefühl angesichts Zehntausender ziviler palästinensischer Opfer – und konnte dabei keiner Seite vollends gerecht werden.

Trump versucht inzwischen regelrecht aggressiv, diese Enttäuschung im jüdischen Wahlvolk darüber auszunutzen. „Erstens, sie mag Israel nicht“, sagte er in einem Interview über Kamala Harris. „Zweitens, sie mag jüdische Menschen nicht.“ Dass Harris sogar mit einem Juden verheiratet ist, dem Anwalt Doug Emhoff, war Trump dabei egal.

Michigan: David Cuttner, Mitglied der Republican Jewish Coalition, zeigt eine Kippa, mit der er für den republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten wirbt.

Michigan: David Cuttner, Mitglied der Republican Jewish Coalition, zeigt eine Kippa, mit der er für den republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten wirbt.

Gern verweist Trump zudem darauf, dass er als Präsident die US-Botschaft nach Jerusalem verlegte, das Abkommen mit dem Iran, das dessen Atomprogramm kontrollieren, aber nicht verbieten sollte, aufkündigte und so zum engen politischen Freund Netanjahus wurde. Das kam nicht bei allen amerikanischen Juden an – aber bei den konservativen.

Er werde der „beste Freund sein, den jüdische Amerikaner jemals im Weißen Haus gehabt haben“, flötete Trump jüngst bei einem Auftritt vor jüdischen Republikanern – um sogleich polternd nachzusetzen: Wenn er die Wahl verliere, würden die Juden in Amerika „damit wirklich viel zu tun haben“. Juden, die nicht für ihn stimmten, befand der Ex-Präsident noch vor fünf Wochen, sollten sich „auf ihren Geisteszustand hin untersuchen lassen“.

Propalästinensische Proteste vor der TV-Debatte von Donald Trump und Kamala Harris in Philadelphia.

Propalästinensische Proteste vor der TV-Debatte von Donald Trump und Kamala Harris in Philadelphia.

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Insgesamt erfreuen sich die jüdischen Gemeinden einer Aufmerksamkeit republikanischer Wahlkämpfer wie nie zuvor: Mehr als 10 Millionen Dollar hat allein die Republican Jewish Coalition investiert, um jüdische Wechselwähler in den Swing States für Trump zu gewinnen – fünfmal so viel wie das Pendant der Demokraten.

Den Demokraten kann das nicht egal sein. Zwar stellen jüdische Wählerinnen und Wähler nur einen einstelligen Prozentsatz der US-Gesamtbevölkerung – und die meisten von ihnen leben noch dazu in Städten, die ohnehin fest in demokratischer Hand sind. Doch da die US-Wahl letztlich von ein paar Zehntausend Stimmen in sieben Swing States – Arizona, Georgia, Michigan, Nevada, North Carolina, Pennsylvania und Wisconsin – entschieden werden dürfte, kann schon die kleinste Verschiebung große Auswirkungen haben: Wo zwischen den Parteien am Ende fast Gleichstand herrscht, können wegen des Mehrheitswahlrechts ein paar Tausend Stimmen den gesamten Bundesstaat holen.

In vielen Swing States ist die Zahl der jüdischen Wähler größer als der Vorsprung der stärksten Kraft bei den Wahlen 2020: In Arizona gibt es zum Beispiel 85.000 jüdische Wähler, während Biden den Bundesstaat vor vier Jahren mit weniger als 11.000 Stimmen Vorsprung gewann. Noch wichtiger sind die Juden in Georgia: In dem Südstaat an der Ostküste holte Biden 2020 nur 12.000 Stimmen mehr als Trump, es leben aber 125.000 Juden dort.

Einer von ihnen ist Aaron, Betreiber eines Online-Handels, 36 Jahre alt – und Trump-Wähler. Zur großen Trump-Kundgebung in Atlanta (Georgia), am Tag nach der Show in New York, ist er mit seinem Bruder gekommen. Der sei noch überzeugter vom republikanischen Kandidaten, sagt Aaron, der seinen Nachnamen lieber nicht nennen mag. „Ich bin selbst oft in Brookyln“, sagt er, „und meine sakulären jüdischen Freunde können nicht verstehen, dass ich Trump wähle.“ Nach zweimal Obama habe er bereits zweimal Trump gewählt, am Dienstag folge das dritte Mal, verspricht er. „Die orthodoxen Juden stimmen auch alle für ihn“, sagt Aaron.

Jüdische Wahlkampfveranstaltung in Atlanta (Georgia): Die Juden könnten die Wahl kippen.

Jüdische Wahlkampfveranstaltung in Atlanta (Georgia): Die Juden könnten die Wahl kippen.

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Seine entscheidenden Gründe seien die Nahost- und die Wirtschaftspolitik: „Unter Trump hat das Land gebrummt, das kann ich als selbstständiger Geschäftsmann nicht ignorieren“, sagt er. „Und wie Biden und Harris mit Gaza und Israel umgegangen sind, ist grauenvoll.“ Kein Wort der Verurteilung der antisemitischen Rhetorik und Übergriffe an den Unis habe er von Harris gehört. „Dabei sind diese Vorgänge doch viel bedrohlicher für uns Juden als irgendwelche Nazi-Sprüche von Trump“, findet Aaron. „Die Medien stürzt sich doch auf sein Gerede nur, weil die tatsächliche Bilanz seiner Amtszeit tadellos war!“

Erster Jude im Weißen Haus

Es sind Aussagen wie diese, die auch Douglas Emhoff umtreiben – den jüdischen Ehemann von Kamala Harris. „Ich reise durchs ganze Land, um den Leuten zu zeigen, was auf der Hand liegt, und um diesen ‚Trump-Nebel‘ zu vertreiben“, sagte er am vorigen Wochenende in Atlanta, der Hauptstadt von Georgia. Emhoff war mehrfach für Wahlkampfauftritte in dem Swing State. „Kamala hat ihre gesamte Karriere damit verbracht, Probleme zu lösen, nicht Probleme zu verursachen“, rief er dem überwiegend jüdischen Publikum zu. „Sie wird uns Juden weiterhin unterstützen. Sie wird uns weiterhin im Kampf gegen Hass und Antisemitismus helfen.“

Bei früheren Wahlkampfauftritten hatte Emhoff gewarnt, dass Trump sich immer wieder antisemitischer Andeutungen bedient und Übergriffe auf US-Juden durch amerikanische Rechtsextreme heruntergespielt habe. „Es ärgert mich so sehr, dass irgendein Jude ihn unterstützt“, sagte er jüngst bei einer Kundgebung jüdischer Wähler in Michigan. „Überall, wo er hingeht, schürt er Antisemitismus.“

Seine Frau dagegen habe die Ängste und den Schmerz der jüdischen Gemeinden verstanden, betonte er bei einer Rede in Pittsburgh. „Sie weiß von den Ängsten vor Antisemitismus an den Universitäten und von dem Gefühl, dass man sich in den Räumen, in denen man sich früher sicher fühlte, nicht mehr willkommen fühlt.“

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Würde Harris am Dienstag zur ersten schwarzen Präsidentin der Vereinigten Staaten gewählt werden, dann würde Emhoff nicht nur der erste „First Gentlemen“ nach 46 First Ladys werden. Er würde dann seinen Mitarbeiterstab und das Büro, das mit diesem Amt kommt, auch für den Kampf gegen Antisemitismus in den USA einsetzen, hat er bereits erklärt.

„Letzter Aufruf zur Rettung der Demokratie“

Die Teilnehmer des Wahlkampf-Calls jüdischer Demokraten sind begeistert von dieser Aussicht. Schon als Gatte der Vizepräsidentin habe er geholfen, dass erstmals einige jüdische Feiertage mit den entsprechenden Ritualen im Weißen Haus begangen wurden, erzählt Ilan Goldenberg, der Direktor für Jüdische Kontakte in der Harris-Kampagne. „Und da geht es nicht nur darum, jüdische Traditionen einzubringen, sondern auch jüdische Werte“, betont er.

Ein Selbstläufer sei das aber nicht, das wissen auch Goldenberg und seine Mitstreiter. Ihrer Veranstaltung wenige Tage vor dem Wahltag gaben sie den Titel „Letzter Aufruf zur Rettung der Demokratie“.