close
close

SOMMERGESPRÄCH : „Merz hat unseren Grundsatz aufgegeben“

SOMMERGESPRÄCH : „Merz hat unseren Grundsatz aufgegeben“

In der Öffentlichkeit hat sich Mario Czaja zuletzt rar gemacht. Wer könnte ihm das verdenken, nach seiner vielleicht größten Niederlage? Als Generalsekretär sollte der Ostberliner eigentlich diejenigen an die CDU binden, die mit Friedrich Merz als Parteichef so ihre Probleme haben. Einige Zeit ging das gut. Dann schmiss ihn der Sauerländer im vergangenen Sommer raus. Enttäuscht sei er gewesen, sagt Czaja heute. Aber nicht verletzt. Die Medienpause will der Abgeordnete nicht als Erholung verstanden wissen. Denn: Er hat in der Zwischenzeit ein Buch geschrieben. „Wie der Osten Deutschland rettet“ beschreibt, warum die ostdeutschen Länder doch „blühende Landschaften“ werden könnten. Das Thema packt Czaja so sehr, dass er gleich ohne Frage loslegt:

Wissen Sie, als ich aus dem Amt des Generalsekretärs ausgeschieden war, sprach ich mit Wolfgang Schäuble über meine Idee, dieses Buch zu schreiben. Er fand das wichtig, hat mir aber zwei Ratschläge mit auf den Weg gegeben. Erstens: „Sie müssen das für ganz Deutschland schreiben, gerade auch in Richtung Westen.“ Und zweitens: „Sie müssen selbstbewusst Lösungen formulieren.“ Das habe ich beherzigt und umzusetzen versucht.

Herr Czaja, Sie sind in der DDR geboren. Erkennen Sie eigentlich sofort, ob jemand aus dem Osten oder aus dem Westen kommt?

Nein, sofort erkenne ich das nicht.

Gibt es aber etwas, das Ostdeutsche von Westdeutschen unterscheidbar macht?

Auf den ersten Blick sicherlich nicht. Wenn Ostdeutsche aber über ihre eigene Biografie sprechen, fangen sie meistens erst mit dem Jahr 1990 an.

Warum das?

Weil viele die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Lebensleistung vor der Wende keine Rolle spielt, ihnen manchmal sogar negativ ausgelegt wird. Über ihre DDR -Biografie sprechen sie dann oft erst, wenn nur noch Ostdeutsche am Tisch sitzen.

Machen Sie das auch so?

In gewisser Weise habe ich die „Chance der späten Geburt“ erfahren. Als die Mauer fiel, war ich 14 Jahre alt. Alle Entscheidungen, die frühere Jahrgänge treffen mussten – für oder gegen das System –, haben für mich keine Rolle mehr gespielt.

Zur Identität eines jungen Menschen gehört auch, welche Erfahrungen die eigenen Eltern mit dem System gemacht haben.

Meine Eltern waren nie Mitglied in der SED oder einer anderen Blockpartei. Der Familienkreis unserer katholischen Kirchengemeinde war ihre Nische, in der sie innerhalb des Sozialismus ein anständiges Leben führen konnten. Das war natürlich mit Nachteilen verbunden, die ich als Kind teilweise mitbekommen habe.

Welche waren das?

Wir hatten nie einen Telefonanschluss, bis zuletzt konnten meine Eltern nicht zu zweit in den Westen reisen. Mir war immer klar, dass ich ohne FDJ und Jugendweihe nicht auf die Erweiterte Oberschule hätte gehen und kein Abitur hätte machen können. Obwohl ich – zumindest bis zur Oberschule – zu den drei klassenbesten Jungs gehört habe.

Setzt sich das Gefühl des Abgehängtseins in der Generation Ihrer Kinder fort?

Wenn ich mit heute 14 -Jährigen spreche, dann höre ich oft: Über die DDR gibt es die eine Meinung, die in den Büchern steht, und die andere, die unsere Eltern zu Hause erzählen. Das besorgt mich sehr. Wir sehen ja bei Wahlen, dass die jüngere Generation eine noch viel größere Distanz zur Demokratie aufgebaut hat als die ältere. Viele überrascht das, mich nicht.

Warum nicht?

Weil ich spüre, dass sich die Verletzungen der Eltern und Großeltern auf die nächste Generation übertragen haben. Und weil sich damit eine Denkweise fortsetzt, die wir aus der DDR kennen: „Es gibt Themen, über die können wir nur privat reden.“ Das gilt für zahlreiche gesellschaftliche Debatten.

Sie haben jetzt ein Buch geschrieben, in dem Sie Vorschläge entwerfen, wie Ost-und Westdeutschland näher zusammenwachsen. Als Generalsekretär von Friedrich Merz saßen Sie an der richtigen Stelle, um diese Ideen in der CDU umzusetzen. Wie oft vermissen Sie Ihren alten Job?

Die Trennung war nach den anderthalb Jahren und den Entwicklungen, die ich bei Friedrich Merz gespürt habe, rückblickend richtig. Ich hatte andere Auffassungen zur Aufstellung der Union. Den Weg, den Friedrich Merz für sich eingeschlagen hat, kann er mit Carsten Linnemann besser gehen als mit mir.

Im Buch erzählen Sie, wie Friedrich Merz und Sie vor seiner Wahl zum Bundesvorsitzenden stundenlang in seiner Wohnung diskutierten. Es scheint so, als ob Sie damals sehr vertraut waren miteinander.

Mein Buch beschreibt einen Veränderungsprozess, den ich bei Friedrich Merz erlebt habe. Anfangs waren wir uns einig in dem Anspruch, ein starkes und breites Team zu bilden. Mehrere politische Enttäuschungen haben bei ihm dann dazu geführt, dass er unseren gemeinsamen Grundsatz schrittweise aufgegeben hat. Aus seiner Sicht war es dann folgerichtig, Carsten Linnemann zum Generalsekretär zu machen.

Wie haben sich diese Monate der Entfremdung angefühlt für Sie?

Das war ein relativ kurzer Prozess, der im Juni 2023 nach dem Kleinen Parteitag begann und knapp einen Monat später mit unserer Trennung endete. Als er sich dazu entschieden hatte, hatte ich das Gefühl, dass das passt. Nun war es auch so, dass seine Neupositionierung nur sehr wenig mit mir zu tun hatte, sondern mit der Entwicklung in der Partei. Natürlich war ich enttäuscht. Aber verletzt war ich nicht. Es fühlte sich richtig an.

Ihren Rausschmiss haben viele in der Partei als Konzentration auf den Kern dessen verstanden, was Merz ausmacht: wirtschaftsliberal, konservativ, westdeutsch. Warum denken Sie trotzdem, dass die CDU noch Ihre Partei ist?

Weil nach wie vor alle Strömungen in der Partei stark vertreten sind, die konservative, die liberale und, ja, auch die soziale. Die Christdemokratie war immer dann stark, wenn sie ihre Arme weit geöffnet hat. In diesem Zusammenhang stelle ich ganz sachlich fest, dass die Partei über die Umfrageergebnisse, die Friedrich Merz und ich im vergangenen Sommer als Tandem erreicht haben, bislang nicht hinausgekommen ist. Ein größeres Spektrum erreichen wir erst, wenn wir uns gesellschaftlichen Gruppen zuwenden, die unsere Grundsätze teilen, sich von uns aber aktuell eben nicht ausreichend angesprochen und ernst genommen fühlen.

Das neue Grundsatzprogramm der CDU atmet wenig von dieser Vielfalt.

Das Grundsatzprogramm ist schon vielfältig. Aber leider konzentriert sich die politische Kommunikation des Adenauer-Hauses auf einige wenige Punkte. Dadurch entsteht der Eindruck, nur die Positionen des Wirtschaftsflügels wären wichtig. Außerdem fehlen mir einige Passagen, die ich noch vorgeschlagen hatte und die dann auf dem Parteitag gestrichen wurden. Dazu gehört zum Beispiel das Kinderstartkapital, ein wichtiges Projekt für Ostdeutschland. Das scheint auch Friedrich Merz zu vermissen, denn er hat öffentlich erklärt, dass er dazu spätestens im Regierungsprogramm einen Vorschlag machen will.

Warum geben auf solchen Parteitagen eigentlich vor allem westdeutsche Verbände den Ton an?

Mitglied einer Partei zu werden ist für viele in den neuen Ländern eine deutlich höhere Hürde als im Westen. Wer in der DDR Parteimitglied war, musste sich nach der Wiedervereinigung dafür häufig rechtfertigen. Wer es nicht war, sagt heute, das sei auch besser so und so solle es auch bleiben. Das führt dazu, dass westdeutsche Landesverbände in der Union stärker vertreten sind und eine deutlich größere Rolle spielen. Im Osten gibt es schlicht und ergreifend wesentlich weniger CDU-Mitglieder. Und das wirkt sich dann bei Parteitagen deutlich auf die Zahl der Delegierten und damit auf politische Mehrheiten aus.

Man merkt die Übermacht der westdeutschen Verbände auch bei inhaltlichen Debatten, etwa zu Russland. Treffen Sie auf Unverständnis, wenn Sie in der Bundestagsfraktion Ihre ostdeutsche Sicht dazu skizzieren?

Das geht Michael Kretschmer (CDU-Ministerpräsident von Sachsen; Anmerkung der Redaktion) und mir häufig so, ja.

Sie waren einer von nur drei Unionsabgeordneten, die im Frühjahr gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine gestimmt haben.

Da war es besonders heftig. Kurz nach der Abstimmung zu Taurus war die Trauerfeier für Wolfgang Schäuble im Berliner Dom. Aus irgendeinem Grund saß rechts neben mir eine AfD-Abgeordnete. Da sagte jemand aus meiner eigenen Fraktion zu mir: „Da hast du dich ja gleich zu den Richtigen gesetzt, nach der Abstimmung letzte Woche.“

Fühlen Sie sich in solchen Momenten fremd in der eigenen Partei?

Ich merke dann, dass einigen in der Fraktion das Gespür für diese sensiblen Themen fehlt. In der Partei habe ich das schon früher nach ostdeutschen Landtagswahlen erlebt. Wenn die jeweiligen CDU-Spitzenkandidaten am Montag danach ins Präsidium der Bundespartei kamen, hatte dort jeder sofort eine Meinung dazu, was jetzt zu tun sei. Bei westdeutschen Landtagswahlen dagegen erteilt niemand aus den Führungsgremien vermeintlich kluge Ratschläge.

„Die CDU in den neuen Ländern muss eigenständig laufen lernen“

Als Generalsekretär im Konrad-Adenauer-Haus waren Sie „allein unter Wessis“. Macht das einsam?

Nein. Es gab ja immer Leute, die sich für ostdeutsche Perspektiven interessiert haben. Aber in den Gremien der Partei ist die Repräsentanz der Ostdeutschen sehr gering. Das muss sich ändern. Nicht nur weil es darum geht, dass die Ostdeutschen das Anrecht haben sollten, mit am Tisch zu sitzen. Sondern weil Politik dann besser wird, weil wir voneinander lernen können.

Gleich zu Beginn des Buchs beschreiben Sie eine Szene von einer gemeinsamen Sitzung der Unionspräsidien. Während einer Klausur soll sich Friedrich Merz mal zu Ihnen gebeugt und gesagt haben: „Du bist hier mit Yvonne Magwas der Einzige aus dem Osten.“ War das paternalistisch gemeint von ihm, belustigt oder kritisch?

Nein. Er hat das in diesem Moment schon kritisch gesehen.

Schlüsse hat er daraus nicht gezogen.

Das ist ja nicht nur seine Aufgabe. Ich finde, wir Ostdeutschen in der CDU sollten auch selbstbewusster mehr Repräsentanz einfordern. Vor allem müssen wir deutlich machen: Es braucht eine Quote für Ostdeutsche in unseren Führungsgremien. So etwas zu fordern ist kein Verbrechen, kein Affront gegen die Satzung der Union!

Dabei dachten wir immer, Quotierungen seien ganz und gar undemokratisch. So haben wir es uns von der CDU doch immer erklären lassen.

Im Gegenteil! Die Gründungsgeschichte der CDU ist ohne den Ausgleich zwischen unterschiedlichen Gruppen gar nicht denkbar. Den Vätern und Müttern der Union ist es gelungen, Protestanten und Katholiken, Nord- und Süddeutsche, Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammenzubringen. Noch heute spürt man diese Wurzeln. Überall in der CDU gibt es Quotierungen, nur nicht zwischen Ost und West.

Sie fordern nicht nur für die CDU eine Quote, sondern für ganz Deutschland. Wie soll die aussehen?

50 Prozent der Spitzenpositionen in den ostdeutschen Landesministerien sollten von Ostdeutschen besetzt werden. Und 20 Prozent der zu besetzenden Stellen in Bundesministerien.

Aber noch einmal zu der Frage: Braucht es eine solche Quote wirklich? Das bringt doch nicht unbedingt mehr Gerechtigkeit.

Die Idee der Wendejahre, dass da für den Übergang ein paar Westdeutsche in Führungspositionen wechseln und die Ossis schon irgendwann nachrücken, ist gescheitert. In fast allen ostdeutschen Bundesländern besteht die Hälfte der jeweiligen Kabinette aus westdeutschen Ministern! Stellen Sie sich mal für einen Moment vor, in der bayerischen Staatsregierung würden zur Hälfte Sachsen oder Thüringer sitzen. Die CSU würde eine Sondersendung nach der anderen fordern. Ich könnte mir die Rhetorik von Alexander Dobrindt lebhaft ausmalen. Und ich könnte sie sogar verstehen!

Haben Sie mit Friedrich Merz über Ihre Idee einer Ostquote für die CDU gesprochen?

Natürlich. Schon als es um die Frauenquote ging, an deren Einführung ich einen wesentlichen Anteil hatte.

Wäre eine Quote aus Ihrer Sicht auch für Menschen mit Migrationsgeschichte richtig?

Es geht darum, dass alle gesellschaftlichen Gruppen in unserem Land sichtbar werden. Natürlich müssen wir uns die Frage stellen: Sind Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sichtbar genug? Sie werden aber verstehen, dass ich mich in meinem Buch vor allem mit einer Quote für Ostdeutsche beschäftigt habe.

Die übergeordnete Frage ist trotzdem spannend: Kann eine Quote wirklich für viele gesellschaftliche Gruppen mehr Beteiligung, mehr Gerechtigkeit schaffen?

Davon bin ich überzeugt. Was wir brauchen, ist Chancengerechtigkeit. Und die hinkt an vielen Stellen enorm. Das zeigt sich etwa bei der Vermögensverteilung. In Ostdeutschland gab es zum Zeitpunkt der Währungsunion nicht mal 100 Millionäre, während es im Westen zu diesem Zeitpunkt schon über 100 Milliardäre gab. Der Osten hatte also nie eine mit dem Westen vergleichbare materielle Infrastruktur. Menschen ohne Vermögen stoßen hierzulande oft an gläserne Decken, etwa wenn sie sich für ein Stipendium bewerben oder in die Selbstständigkeit wechseln wollen.

Deshalb Ihre Idee eines Kinderstartkapitals?

Damit könnten wir die Akkumulation des Vermögens auf eine relativ kleine Personengruppe aufbrechen. Die Idee ist, dass jedes in Deutschland geborene Kind mit der Geburt einen Anteil von 10 000 Euro an einem Kapitalfonds erhält. Dieser Geldbetrag ist nicht bar auszahlbar. Damit kann das Kind dann aber ab dem 18. Lebensjahr ein Stipendium finanzieren, in eine Unternehmensgründung investieren oder sich eine langfristige Altersvorsorge aufbauen. Finanzieren ließe sich dieses Modell ganz einfach über die Erbschaftssteuer, die moderat angehoben werden könnte oder deren Ausnahmen deutlich reduziert werden.

Warum war die CDU nicht bereit dafür, den Weg frei zu machen für so einen Vorschlag?

Ich vermute, es war am Ende die Angst vor einer falschen Debatte um die Erbschaftssteuer und einen Konflikt mit den westdeutschen Familienunternehmen, die ihre Betriebe in Gefahr gesehen haben. Dabei spiegeln sich beide Kritikpunkte in unserem Vorschlag gar nicht wider.

Für die ostdeutsche Wirtschaft fordern Sie nun einen neuen Solidarpakt und Sonderförderzonen. Warum braucht es so etwas heute noch, 30 Jahre nach der Wende?

Ein Beispiel dazu: Im Westen ist der Aufwuchs an Mitteln für Forschung und Entwicklung in den vergangenen Jahren deutlich größer gewesen als in Ostdeutschland. Die Forschungsinvestitionen stiegen von 1993 bis 2006 von 17 Milliarden auf 51 Milliarden Euro in Westdeutschland. Im Osten war es ein magerer Aufwuchs von 1,3 Milliarden auf 4,5 Milliarden Euro. Wir brauchen hier also eine bessere Kapitalausstattung, gerade für die im Osten hauptsächlich kleinteilig aufgestellten mittelständischen Unternehmen. Der Staat muss die Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen tätigen, die ostdeutsche Unternehmen aus eigener Kraft nicht stemmen können. Das kann mit Sonderförderzonen gelingen, in denen Unternehmen gezielt unterstützt und Forschungsinstitutionen des Bundes vorrangig angesiedelt werden.

Warum sollen die westdeutschen Länder immer mehr Kapital in den Osten schicken und nicht selbst sagen: Irgendwann reicht es aber?

Ich kann diese Einschätzung auf den ersten Blick verstehen. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass ganz Deutschland davon profitiert, wie aktuell der Aufbau der Halbleiterindustrie in Sachsen zeigt. Zur Wahrheit gehört zudem auch, dass die Mittel des „Aufbau Ost“ nur zu einem sehr geringen Anteil in die wirtschaftliche Infrastruktur geflossen sind.

Wohin stattdessen?

Ein großer Teil davon waren soziale Transferleistungen, die aufgrund des Wegfalls der Industrie im Osten geleistet werden mussten. Und weil 1,7 Millionen Arbeitskräfte vom Osten in den Westen gegangen sind, wo sie maßgeblich zum Wirtschaftswachstum nach der Wende beigetragen haben. Mir geht es bei dieser Frage nicht darum, die Lage nur für die neuen Bundesländer zu verbessern. Mehr Investitionen in die ostdeutsche Infrastruktur tragen zur wirtschaftlichen Entwicklung im ganzen Land bei. Dafür konnte ich viele Belege sammeln.

Wir möchten noch etwas über den Umgang Ihrer Partei mit den Ostdeutschen sprechen. Hätte sich die CDU nach der Wende offener zeigen müssen für ehemalige SED-Parteimitglieder?

Das ist nicht der Punkt. Sondern: Die CDU in den neuen Ländern muss eigenständig laufen lernen. Es gab in Ostdeutschland einige Situationen, in denen die jeweiligen Landesverbände genauso selbstbewusst hätten entscheiden müssen, wie das die CDU in Baden-Württemberg oder in Schleswig-Holstein schon immer macht.

Welche Situationen meinen Sie?

Aus meiner Sicht war es falsch, dass die CDU in Thüringen nach der letzten Landtagswahl nicht mit der Linkspartei über Formen der Zusammenarbeit gesprochen hat. Es hätte ja nicht zwingend eine Koalition sein müssen. Damals gab es zum Beispiel die Idee, ein Expertenkabinett aus überparteilichen Köpfen zu bilden.

Und das wäre ein Modell für Thüringen gewesen?

Bei der letzten Wahl waren die Linken dort Zweitstimmensieger. Aber die CDU hatte weiterhin die Mehrheit der Erststimmen gewonnen. Da wäre es doch nur folgerichtig gewesen, dass diese beiden Parteien sich an einen Tisch setzen und ein gutes, breites Bündnis für Thüringen formen. Stattdessen ließ sich die CDU auf ein Verfahren ein, in dem sie den Vertreter der kleinsten Fraktion im Landtag für das Amt des Ministerpräsidenten unterstützte! Die CDU hat sich damit verzwergt.

Sie meinen Thomas Kemmerich, den Fraktionsvorsitzenden der FDP, der damals überraschend zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Mit Stimmen von AfD und CDU.

Das ist doch demütigend für die CDU. Eine Partei, die in Thüringen seit der Wende 24 Jahre lang den Ministerpräsidenten gestellt hat!

Sie plädieren also dafür, die strikte Ablehnung der Linkspartei als Kooperationspartner aufzuweichen?

Die Linkspartei in Thüringen oder Sachsen ist jedenfalls deutlich sozialdemokratischer und auch bürgerlicher als etwa die SPD in Südhessen, die dort Teile der Landesregierung stellt. An vielen Orten ist die Linkspartei eine ostdeutsche Sozialdemokratie.

Gibt es denn die Bereitschaft in der CDU, diesen Weg tatsächlich mitzugehen?

Ja, das habe ich in der Recherche zu diesem Buch erlebt. Ich spüre das auch im Gespräch mit den ostdeutschen Ministerpräsidenten und führenden Köpfen der dortigen CDU.

Uns sagen führende Politiker aus Ostdeutschland: Mit den Linken, dieser Mauermörder-Partei, können wir allein schon aus historischen Gründen nicht zusammengehen.

Ich bin wahrlich kein Anwalt der Linken. Aber die Linkspartei hat sich mit ihrer Verantwortung für Mauer und Stacheldraht intensiv beschäftigt, stärker als die Blockparteien übrigens. Politik macht es einfach notwendig, den Wählern jede Entscheidung und jede Kooperation zu erläutern. Das würde auch für ein Bündnis mit der Linkspartei gelten.

Nehmen Sie wahr, dass die Bundespartei sich bewegt? Immerhin gibt es einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linkspartei, der für alle Landesverbände gilt.

Die Bundespartei muss sich nicht bewegen. Nein, die Ost-CDU muss selbstbewusst mit der Situation umgehen, sie erklären und zum Ausdruck bringen, dass die derzeitige Interpretation der Hufeisentheorie in Ostdeutschland voller Fehler ist.

Aber gerade diese Hufeisentheorie, also dass AfD und Linkspartei gleichermaßen abzulehnen sind, ist CDU pur. Wie wollen Sie gegen dieses starke Narrativ ankommen?

Die Hufeisentheorie besagt, dass der linke und der rechte Extremismus gleichermaßen die Demokratie eliminieren wollen. Das ist auch richtig. Aber die Linkspartei möchte die Demokratie gar nicht abschaffen. Wir müssen aufhören damit, die westdeutsche Hufeisentheorie auf Linkspartei und AfD zu übertragen. Am Ende verharmlost das die AfD!

Andererseits sind die Rote-Socken-Kampagnen der CDU auch legendär.

Das sind Kampagnen der westdeutschen CDU! Und das war die grauenhafteste Kampagne, die ich jemals erlebt habe.

Wie schauen Sie denn unter diesen Vorzeichen auf das Bündnis Sahra Wagenknecht?

Beim BSW gilt das Gleiche wie bei der Linkspartei auch. Wir müssen vor Ort darauf schauen, welche Menschen die Verantwortung tragen und ob sich Mehrheiten finden lassen für gesellschaftlich relevante Themen, die auch die Union bewegen.

Glauben Sie an die Brandmauer?

Für mich muss es eine klare rote Linie zu Antidemokraten geben. Also zur AfD, die menschenverachtend handelt, in ihren eigenen Reihen Holocaust-Leugner und Reichsbürger duldet. Mit dieser Partei kann und darf es keine Form der Zusammenarbeit geben. Die „Mauer“ als Sprachbild zu verwenden halte ich aber nicht für zielführend. Da hatte ich schon immer den Eindruck, dass sich das niemand überlegt haben kann, der im Osten groß geworden ist.

Wir sprachen vorhin darüber, dass die Parteibindung im Osten gering ist. Wie lässt sich die Bevölkerung dort trotzdem stärker in demokratische Prozesse einbinden?

Ich bin sehr dafür, über Bürgerbeiräte wieder mehr Partizipation vor Ort zu ermöglichen. Sie könnten zum Beispiel darüber entscheiden, wer von der Sozialhilfe zusätzliche Leistungen bekommt, zum Beispiel für den Umbau der eigenen Wohnung.

„An vielen Orten ist die Linkspartei heute eine ostdeutsche Sozialdemokratie“

Die Union war bislang nicht bekannt dafür, solche Institutionen zu fordern.

Ich empfehle meiner Partei, mehr Mut zu haben und die Menschen an entscheidenden politischen Fragen mitwirken zu lassen. Politik muss wieder mehr in den Dialog mit den Menschen kommen. Michael Kretschmer macht das in Sachsen hervorragend. Ja, ich finde es richtig, dass er zu Pegida-Demonstrationen gegangen ist, um sich dort dem Streit zu stellen. Und es ist auch richtig, dass unser Thüringer Spitzenkandidat Mario Voigt im Fernsehen mit Björn Höcke von der AfD diskutiert hat.

Sie fordern auch mehr Volksentscheide. Ist das eine gute Idee – in Zeiten von Populismus, nach den Erfahrungen mit der Brexit-Abstimmung in Großbritannien?

Einzelne Instrumente der Partizipation nicht anzuwenden, weil man Angst vor der Meinung der Bevölkerung hat, halte ich für kurzsichtig. Wenn die Menschen nicht besser an Entscheidungen beteiligt werden, dann suchen sie sich früher oder später ein anderes Ventil für ihren Frust.

Wenn Sie sich jetzt eine Position wünschen dürften, in der Sie all Ihre Vorschläge vorantreiben könnten – welches Amt in der Bundesregierung Merz wäre das dann?

(lacht) Sie möchten gern die Überschrift haben: Mario Czaja will Minister werden. Da muss ich Sie leider enttäuschen, denn das steht doch jetzt gar nicht zur Debatte. Ich sehe es so: Die Themen, die ich beschrieben habe, kann nicht eine Person allein umsetzen. Das geht nur gemeinsam. Wir können aber auch alle gemeinsam davon profitieren. Das ist meine Botschaft: Lösungen für ein neues Miteinander.

Haben Sie mit Friedrich Merz eigentlich über das Buch gesprochen?

Nein.

Sprechen Sie überhaupt noch mit ihm?

Ja, natürlich.

Und glauben Sie, er wird das Buch lesen?

Spätestens nach Ihrem Interview schon (lacht).

Wir haben uns in der Vorbereitung auf dieses Gespräch Ihr FOCUS-Interview vor einem Jahr noch einmal angeschaut. Sie sprechen heute freier als damals, oder?

Das liegt in der Natur der Sache. Als Generalsekretär musst du immer das Gesamtgefüge der Partei im Blick haben. Jemand wie ich, der die westdeutsche CDU so nicht kannte, ist da natürlich etwas vorsichtiger. Andere Generalsekretäre vor mir sind mit der Partei groß geworden und hatten aus ihrer Zeit in der Jungen Union entsprechende Frühwarnsysteme in allen Landesverbänden. Hinzu kommt, dass ich völlig ohne Hausmacht in die Parteizentrale gekommen bin. Auch das ist eher ungewöhnlich und untypisch.

Das ist eine traurige Erkenntnis: Wer später in die Politik einsteigt und nicht schon von Kindesbeinen an in der CDU aufwächst, dem fehlt es an Netzwerken und Kontakten für einen Job wie den des Generalsekretärs.

Als Politiker brauchst du einen gewissen Grundoptimismus, sonst treffen wir uns alle im kollektiven Suizid auf dem nächsten Parkplatz, wenn Sie mir diesen Anflug von schwarzem Humor verzeihen. Mir ist auf meinen Touren als Generalsekretär immer sehr viel Interesse begegnet für meine Sichtweise, gerade in Westdeutschland.

Wie viel Mut wird die Partei haben, Ihre Vorschläge anzupacken?

Viel, sonst hätte ich das Buch ja nicht geschrieben (lacht).

Und was ist, wenn die Partei am Ende den Mut doch nicht hat?

Die CDU hat immer schon die Kraft gehabt, aus schwierigen Situationen die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen und sich selbst zu erneuern. Mal ehrlich: Wenn ich bei Wolfgang Schäuble am Tisch saß und er über seine Erfahrungen sprach, dann wirken unsere Probleme heute wesentlich überschaubarer. Die CDU hat sich immer dann neu erfunden, wenn das Land unter Druck war. Das war das Erfolgsrezept von Konrad Adenauer, Helmut Kohl und am Ende auch von Angela Merkel.

Das Buch Am 12. August erscheint Mario Czajas Buch „Wie der Osten Deutschland rettet“ im Herder-Verlag (192 Seiten, 20 Euro, gebunden)