close
close

Die Grenzen der „Neutralität“ – Verfassungsblog

Die Grenzen der „Neutralität“ – Verfassungsblog

Zur Beihilfestrafbarkeit im KZ Stutthof und darüber hinaus

Irmgard F. war zwischen 1943 und 1945 die Stenotypistin des Lagerkommandanten im Konzentrationslager Stutthof. Das LG Itzehoe verurteilte sie am 20. Dezember 2022 wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und zum versuchten Mord in fünf Fällen. Letzte Woche hat der 5. Strafsenat des BGH die von F. gegen das Urteil eingelegte Revision verworfen.1) Die Verurteilung zu einer Jugendfreiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung ist somit rechtskräftig.

Das Urteil des BGH ist zeitgeschichtlich bedeutsam und stellt einen wichtigen Beitrag zur Anerkennung des Unrechts dar, das den Opfern des Nationalsozialismus widerfahren ist. Doch es geht darüber hinaus: Der Senat konkretisiert die in der internationalen Strafrechtswissenschaft aktuell diskutierte Frage der Begrenzung der Beihilfestrafbarkeit bei sogenannten berufstypisch „äußerlich neutralen“ Handlungen (s. etwa Ambos und bereits Ambos, Baun sowie Petersen) hinsichtlich der engen Einbindung in organisierte Verbrechensstrukturen. Er leistet damit einen begrüßenswerten Beitrag zu den Grenzen individueller Verantwortlichkeit in bürokratisch organisierten Machtapparaten. Man kann sich – so ließe sich eine Lehre aus dem Urteil formulieren – nicht pauschal darauf zurückziehen, „bloß“ seinen Job zu machen, und dabei den Kontext der Tätigkeit geflissentlich ausblenden.

Zweifel an der Legitimität der NS-Spätverfolgung

Im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen F. hatte es – wie bereits bei früheren Verfahren gegen KZ-Angestellte – in der Öffentlichkeit Zweifel an der Legitimität der NS-Spätverfolgung gegeben: Bringen die Prozesse gegen NS-Gehilfinnen und Gehilfen heute überhaupt noch etwas? Sind sie nicht unbillig, weil die meisten Täter und Täterinnen nicht oder viel zu milde bestraft worden sind?

Kein schutzwürdiges Vertrauen auf strafrechtliche Nicht-Verfolgung

Diese Zweifel hat der BGH gleich zu Beginn seiner Urteilsverkündung entkräftet: Mord, ebenso wie die Beihilfe zum Mord,2) verjähren nicht (§ 78 Abs. 2 StGB). Auch dass F. in früheren NS-Verfahren nur als Zeugin vernommen worden war, schaffe keinen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand. Denn allein ein rechtskräftig abgeschlossen Verfahren schütze das Vertrauen darauf – abgesehen von den in § 362 StPO normierten Ausnahmen – nicht noch einmal strafrechtlich verfolgt zu werden (vgl. Art. 103 Abs. 3 GG). Aufgrund der „fehlgeleiteten Nachkriegsjustiz“ (so der Senat wörtlich, s. hierzu auch etwa Safferling in: Lüttig/Lehmann), insbesondere der mittlerweile revidierten Rechtsprechung zum sogenannten „Einzeltatnachweis“ (hierzu etwa Burghardt, S. 37 ff und Kurz), waren viele NS-Gehilfinnen und Gehilfen wie F. aber überhaupt nicht verfolgt worden.

Strafprozess ermöglicht differenzierte Schuldfeststellung

Dem ist hinzuzufügen, dass es in dem Verfahren neben der Unrechtsanerkennung für die Opfer und ihre Angehörigen auch um die Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen ging. Darüber hinaus ermöglicht ein Strafprozess eine genaue und differenzierte, für die Zukunft verbindliche Feststellung der individuellen Verantwortung der Angeklagten unter Wahrung ihrer subjektiven Rechte (vgl. Drumbl, S. 3).

Begründung der Beihilfestrafbarkeit von F.

Im Zentrum der Revisionshauptverhandlung vom 31. Juli 2024 stand die Begründung der Beihilfestrafbarkeit von F. Sie hatte als Zivilangestellte in Stutthof im Geschäftszimmer der Abteilung I dem Lagerkommandanten direkt zugearbeitet. Hierdurch unterschied sich der Sachverhalt von früheren Verfahren gegen SS-Wachmänner.

Nach den – laut BGH rechtsfehlerfreien – Feststellungen des LG Itzehoe war ein Großteil des Schriftverkehrs innerhalb und außerhalb von Stutthof über F.’s Schreibtisch gegangen. Auch wenn F. kein konkretes Schriftstück zweifelsfrei zugeordnet werden konnte (LG Itzehoe, Rn. 226), ging das LG daher von physischer Beihilfe von F. aus.3) Der Schriftverkehr sei in der „organisierten, behördengleichen Verwaltungsstruktur des KZ-Systems (…) zwingend erforderlich“ für die „Organisation und Durchführung der zahlreichen Tötungen“ (LG Itzehoe, Rn. 224) gewesen. Ferner nahm das LG auch psychische Beihilfe an. F habe den Tatentschluss der Haupttäter gestärkt, indem sie den Haupttätern als „zuverlässige und gehorsame Untergebene“ in „fortlaufender Dienstbereitschaft“ zur Verfügung stand (LG Itzehoe, Rn. 227). Ihre Tätigkeit als die Sekretärin des Lagerkommandanten war von „essenzieller Bedeutung“ für die Umsetzung der im KZ Stutthof verfolgten Ziele (LG Itzehoe, Rn. 227).

Uniformierung nicht entscheidend

Der BGH wies darüber hinaus darauf hin, dass es nicht darauf ankomme, ob eine Angestellte „Uniform trägt“ oder nicht, d.h. ob sie im hiesigen Fall Teil der SS oder Zivilangestellte war. Entscheidend sei allein die konkrete Funktion der Angeklagten und ob diese im Rahmen des Gesamtbetriebes einen fördernden Beitrag zu konkreten Haupttaten geleistete habe. Insofern bestätigte der BGH im Einklang mit seiner Rechtsprechung im Gröning-Beschluss die Anwendung des aus dem Völkerstrafrecht bekannten systemischen Zurechnungsmodells (ähnlich der JCE-II Doktrin, s. Ambos und Bock). Dieses erweitert das traditionelle Zurechnungsmodell bei Völkerrechtsverbrechen um ein „systemisches Moment“, um dem Kollektivbezug des individuellen Handelns gerecht zu werden (Bock, S. 427).

Begrenzung durch berufstypische „neutrale“ Handlungen?

Aufgrund der Erweiterung der individuellen Zurechnung bei Verbrechen mit Kollektivbezug ist es in besonderem Maße geboten, über Begrenzungen im Einzelfall nachzudenken. Im Fall von F., die zuvor die – offensichtlich sozialadäquate – Tätigkeit einer Stenotypistin in einer Bank ausgeübt hatte, ließe sich überlegen, ob ihre anschließende Tätigkeit als Stenotypistin im KZ Stutthof nicht im Kern dieselbe, sozialadäquate Tätigkeit geblieben war. Mit anderen Worten hatte sich, so ließe sich vorbringen, nicht ihre Tätigkeit, sondern allein der Kontext geändert, in den sie diese Tätigkeit (wohlgemerkt: freiwillig, s. LG Itzehoe, Rn. 96, 367) stellte. Das LG Itzehoe erwog daher kurz eine Einschränkung der Beihilfestrafbarkeit nach den im Wirtschaftsstrafrecht entwickelten Grundsätzen der berufstypischen „neutralen“ Handlungen.

Hiernach können Verhaltensweisen, die zwar die Voraussetzungen von § 27 StGB erfüllen, die die Gehilfin nicht nur spezifisch gegenüber dem Täter, sondern gegenüber jeder anderen Person ebenfalls vorgenommen hätte, weil sie damit einen von der Verbrechensbegehung unabhängigen, sozialadäquaten Zweck verfolgt (etwa: Brötchen verkaufen), von der Strafbarkeit ausgenommen werden. Die Einschränkung wird damit begründet, dass sich niemand durch „bloße Mutmaßungen über die Möglichkeit einer strafbaren Verwendung von alltäglichen, sozial nicht unerwünschten Handlungen abhalten lassen“ soll (BGH, Urteil v. 22. Januar 2014 – 5 StR 468/12, Rn. 29). Es geht also maßgeblich um den Schutz sozialen Vertrauens in ein funktionierendes Wirtschaftssystem (Frisch, S. 269 ff.).

„Neutrale Beihilfe“ im KZ?

Das LG Itzehoe sah vor dem Hintergrund dieser Erwägungen für eine Anwendung der Grundsätze der „neutralen Beihilfe“ in einem faktischen Vernichtungslager (LG Itzehoe, Rn. 65) wie dem KZ Stutthof keinen Raum (ähnlich bereits Werle/Burghardt, in: Fahl u.a., S. 348):

„Für eine Übertragung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall mit einer Betrachtungsweise, die das Vertrauen auf die offensichtlich nicht gegebene Legalität des Handelns der Leitung eines Konzentrationslagers schützen wollte, spricht nichts.“ (LG Itzehoe, Rn. 431)

Auch der BGH verneinte eine Begrenzung der Beihilfestrafbarkeit wegen „berufstypischen Verhaltens“ von F.; allerdings nicht schon wegen grundsätzlicher Unanwendbarkeit der Grundsätze, sondern, weil es an deren Voraussetzungen im konkreten Fall fehle. Der Senat bezog sich – bereits in der Revisionshauptverhandlung vom 31. Juli 2024 – auf seine letzte in dieser Sache ergangene Entscheidung aus 2014 zur Beihilfe zum Gewinnspielbetrug:

„Zielt das Handeln des Haupttäters ausschließlich darauf ab, eine strafbare Handlung zu begehen, und weiß dies der Hilfeleistende, so ist sein Tatbeitrag als Beihilfehandlung zu werten. In diesem Fall verliert sein Tun stets den ‚Alltagscharakter‘; es ist als ‚Solidarisierung‘ mit dem Täter zu deuten (…). Aus objektiven Gründen kann eine strafbare Beihilfe zu verneinen sein, wenn dem Handeln des – um die bevorstehende Deliktsverwirklichung wissenden – Täters der „deliktische Sinnbezug” (…) fehlt, weil das vom Gehilfen geförderte Tun des Haupttäters nicht allein auf die Begehung einer strafbaren Handlung abzielt und der Beitrag des Gehilfen auch ohne das strafbare Handeln des Täters für diesen sinnvoll bleibt (…)“ (BGH, Urteil v. 22. Januar 2014 – 5 StR 468/12 (Rn. 26 ff.)

Positives Wissen um Tötungen

Der Senat geht davon aus, dass eine Begrenzung der Beihilfestrafbarkeit wegen berufstypischen Verhaltens aus subjektiven Gründen jedenfalls ausscheide, da das LG Itzehoe hinreichende Feststellungen zum positiven Wissen von F. zu den in Stutthof geplanten und ausgeführten Tötungen getroffen habe. Dies insbesondere deshalb, da F. über zwei Jahre in intensiven Arbeitszeiten (bis zu 10 Stunden täglich, 7 Tage die Woche, s. LG Itzehoe, Rn. 106 ff.) mit direkter Sicht auf den Sammelplatz der Gefangenen und weite Teile des Lagers in Stutthof gearbeitet hatte und der Geruch von Leichen allgegenwärtig war (LG Itzehoe, Rn. 234).

Deliktischer Sinnbezug der Tätigkeit

In Bezug auf eine Beschränkung der Beihilfe nach objektiven Grundsätzen wegen möglichen Fehlens eines deliktischen Sinnbezugs verdienen die in der Revisionshauptverhandlung vom Senat gestellten Fragen Aufmerksamkeit. Die Richterinnen und Richter hatten die Verteidigung mehrmals danach gefragt, worin sie denn den „abtrennbaren“, nicht auf die Massentötungen bezogenen Teil von F.’s Tätigkeit sehen würden. Hierauf konnte (und wollte) die Verteidigung keine konkrete Antwort geben. Angesichts der intensiven Arbeitszeiten von F. konnte auch die im Urteil des LG enthaltene Äußerung von F., ihr Vorgesetzter sei „ein großer Gartenfreund gewesen und jedenfalls einmal habe sie Gartenbedarf für ihn bestellt“ (LG Itzehoe, Rn. 333), selbstverständlich keinen substanziellen, eigenständigen Beitrag begründen. Selbst wenn F. ab und an auch private Tätigkeiten für den Lagerkommandanten verrichtet haben sollte, änderte dies nichts daran, dass der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit der Aufrechterhaltung des verbrecherischen Lagerbetriebs diente (LG Itzehoe, Rn. 335).

Dogmatische Auswirkungen der Entscheidung

Der 5. Strafsenat hat mit seiner Entscheidung klargestellt, dass auch bei organisierten Massenverbrechen die allgemeinen Grundsätze zur „neutralen Beihilfe“ grundsätzlich Anwendung finden können. Daher kommt es auch nicht auf die in der Revisionsverhandlung ebenfalls diskutierte formale Einordnung von Stutthof als „reines Vernichtungslager“ oder „Arbeitslager“ an. Entscheidend ist immer die Betrachtung der konkreten Tätigkeit und des konkreten Wissens der Gehilfin im Einzelfall.

Weil der BGH also kein „Sonderrecht“ für die Verfolgung von NS-Unrecht aufstellt, sondern die allgemeinen (aus dem Wirtschaftsstrafrecht bekannten) Grundsätze der neutralen Beihilfe bemüht, stellt sich die Frage, ob  das Urteil auch Auswirkungen auf Wirtschaftsstrafverfahren wie beispielsweise im Zusammenhang mit Wirecard oder Cum Ex haben kann. Ein Nebenklagevertreter merkte in seinem Plädoyer deshalb auch mahnend an, die Sekretäre und Sekretärinnen von Wirecard müssten jetzt „zittern“. Stimmt das?

Änderung der Verfolgungspraxis?

Wahrscheinlich nicht. Denn an den Kriterien der neutralen Beihilfe hat sich durch das jetzige Urteil des 5. Strafsenats im Vergleich zum zitierten Urteil aus 2014 – soweit ersichtlich – nichts geändert (hier werden die schriftlichen Urteilsgründe nähere Auskunft geben). Allerdings könnte sich durch die gesteigerte Aufmerksamkeit, die das Verfahren gegen F. und ihre Rolle als Stenotypistin des Lagerkommandanten im Rahmen der Verbrechensstrukturen erlangt hat, gegebenenfalls die zukünftige Verfolgungspraxis ändern. Insbesondere die vorgebliche „Neutralität“ von Handlungen und das Fehlen eines „deliktischen Sinnbezugs“ beziehungsweise eines konkret benennbaren und abtrennbaren Teils der Tätigkeit, die sich nicht auf die Verbrechensbegehung bezieht, werden im Einzelfall genau zu prüfen sein.

Ein Blick in die Zukunft

Das Urteil zeigt, dass auch die Prozesse gegen in der Befehlskette am unteren Ende Stehende, sogenannte „low-level functionaries“ (s. Drumbl, S. 29), von bürokratisch organisierten Machtapparaten zu einem besseren Verständnis des Funktionierens der Strukturen beitragen (vgl. auch Drumbl, S. 177). So haben das gesamte Verfahren und die ihm zugrunde liegenden Ermittlungen noch einmal die spezifische Rolle des KZ-Sekretariats verdeutlicht.

Dies entlastet nicht davon, die Haupttäter und Haupttäterinnen zu verfolgen. Auch geht es nicht darum, die unteren Funktionäre stellvertretend für diese mit symbolisch harten Strafen zu belegen, um eine frühere „fehlgeleitete Nachkriegsjustiz“ zu kompensieren. Im Gegenteil: Die untergeordnete Rolle der Gehilfen und Gehilfinnen ist zwingend auf Strafzumessungsebene zu berücksichtigen (§ 27 Abs. 2 S. 2 StGB). Ebenso sind andere strafmildernde Faktoren wie das Alter – zur Tatzeit wie heute (s. dazu Beck) – oder der Einfluss des sozialen Umfelds in den Strafausspruch einzubeziehen (s. LG Itzehoe, Rn 534 ff.).

Die Prozesse gegen NS-Gehilfinnen und Gehilfen stehen damit in einem besonderen Spannungsfeld „zwischen dem (durch die kollektive und organisierte Dimension der Verbrechen gesteigerten) Strafbedürfnis der Allgemeinheit und dem zum Schutze des Angeklagten bestehenden Schuldprinzip“ (Klesczewski, S. 6). Mit dem Urteil gegen F., die – sofern sie nicht gegen Bewährungsauflagen verstößt – keine Freiheitsstrafe wird antreten müssen, scheint diese Spannung angemessen aufgelöst. Der Präsident des Zentralrats der Juden begrüßte das Urteil in diesem Sinne.

Stein im Mosaik von „Never Again“

Der späte Prozess gegen F. ist also kein Ausdruck „der Rache und Vergeltung“, wie der BGH zum Schluss der Urteilsverkündung in den Worten Fritz Bauers noch einmal klargestellt hat. Vielmehr hat er für die Zukunft verbindlich festgehalten: Man kann sich nicht pauschal darauf zurückziehen, „bloß“ seinen Job zu machen, und dabei den Kontext der Tätigkeit ausblenden. Denn „nahezu“ jede (Arbeits-)Tätigkeit kann „in einen strafbaren Kontext gestellt werden“ (BGH, Urt. v. 19. Dezember 2017 – 1 StR 56/17, Rn. 16). Das Urteil lässt sich damit als ein Stein im Mosaik dessen verstehen, was der allgemeine Grundsatz „Never Again“ konkret bedeutet.

Onur Özata war Vertreter dreier Nebenklägerinnen im gesamten Verfahren. Daria Bayer hat ihn im Revisionsverfahren unterstützt.

Die Autoren danken Vanessa Rohn, Anja Schmidt, Erik Warschkow, Dominik Kühn, Marcel Wachtel, Kilian Wegner, Joachim Renzikowski und Paul Dieke.