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Weltuntergangs-Gletscher schmilzt noch schneller – Forscher planen irre Rettung

Weltuntergangs-Gletscher schmilzt noch schneller – Forscher planen irre Rettung

Sogar Hamburg wäre unter Wasser: Weltuntergangs-Gletscher schmilzt noch schneller – Forscher planen irre Rettung

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    In der Pflanze steckt keine Gentechnik

    Aber keine Sorge:
    Gentechnish verändert

    sind die

Mittwoch, 28.08.2024, 10:05

Der Thwaites-Gletscher in der Antarktis schmilzt schneller als gedacht. Wird er instabil, steigt der Meeresspiegel stark an. Städte wie Hamburg, Miami oder Shanghai würden dann überflutet. Forscher auf der ganzen Welt beobachten den Giganten. Einige entwerfen irre Rettungspläne.

Die weiße Wüste erscheint endlos. Eine Fahrzeugkarawane schnürt über die Ebene aus gleißendem Schnee und Eis. An der Spitze zieht eine Pistenraupe die tonnenschwere Last auf Kufen hinter sich her. Alle zwei Minuten stoppt der Zug, aus einem kleinen roten Lastwagen am Ende sinkt eine Rüttelplatte hinab und versetzt den Boden in Schwingung. 

Bis zu 200 Meter tief in den Untergrund unter dem kilometerdicken Eis reichen die seismischen Wellen. 480 Geofone an der Oberfläche fangen sie auf und wandeln sie in Spannungssignale um. Im Führerhaus des Lasters sitzt Olaf Eisen und zeichnet die Daten mittels Computer auf. Sein längerer Vollbart und die Rötungen im Gesicht zeugen von vielen Monaten Forschungsarbeit in der Antarktis, dem kältesten, trockensten und einsamsten Ort auf der Welt.

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Eisen, 51, ist Glaziologe am Alfred-Wegener-Institut (AWI) für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Den Großteil der Untergrund-Kartierungen nahm er mit seinem Team am Thwaites-Gletscher vor, einem riesigen Eis-Pfropfen entlang der antarktischen Küste und Plattform der Superlativen. Er ist der breiteste Gletscher der Erde, seine Fläche entspricht der ganz Großbritanniens. Er ist einer der größten Eisströme der Region, und er schmilzt extrem schnell, schneller als erwartet. Einige von Eisens Kollegen sehen im Thwaites das gefährlichste Stück Eis auf Erden. 

Medien verpassten dem Giganten den gespenstischen Namen „Doomsday Glacier“, Weltuntergangsgletscher, weil sein vollständiges Abrutschen ins Meer nach heutiger Kenntnis womöglich nicht mehr zu verhindern ist. Das allein würde den Meeresspiegel künftig um 65 Zentimeter ansteigen lassen. Aber das ist nur der kleine Teil des Problems: „Bislang wirkt der Thwaites wie ein Bremsklotz für den viel größeren westantarktischen Eisschild“, sagt Eisen. Verlöre der Gletscher seine Stabilität, würden all die Eismassen unweigerlich ins Meer driften, auftauen und den Meeresspiegel allmählich um mehrere Meter ansteigen lassen.

Ob dieser Kipppunkt erreicht wird, sei nicht mehr die Frage, findet Eisen, sondern nur wann: „Ist das System schon gekippt und wir sehen das nur in Zeitlupe oder kippt es noch in zehn, 20 oder 30 Jahren?“. 

Gletscher mit viel Einfluss

Wie Daten deutlich zeigen, hat sich der Eisverlust der Antarktis im vergangenen Jahrzehnt ohnehin stark beschleunigt. Im Schnitt verliert der Kontinent gegenwärtig rund 150 Milliarden Tonnen jährlich. Dabei ist eingerechnet, dass der Osten zwischenzeitlich sogar Eis gewonnen hat. Der Ursprung für den Schwund liegt zuerst im Westen – größtenteils im Thwaites Gletscher und seinen beiden Nachbarn. Seit den Neunzigerjahren verlor er mehr als zwei Billionen Tonnen Eis. Sein Schmelzwasser verantwortet bislang etwa vier Prozent des globalen Meeresspiegelanstiegs – etwa sieben Millimeter. Das klingt erst einmal wenig im Vergleich zu den Einflüssen des grönländischen Eisschilds der Arktis, neben der thermalen Expansion des Meerwassers aktuell der größte Verursacher des Meeresspiegelanstiegs. 

Die Antarktis aber erwacht gerade erst aus ihrer Tiefkühltruhe. Experten befürchten, dass sie innerhalb weniger Jahrzehnte die Auflösung des Nordpolgebiets überholen könnte. Unmittelbar betroffen wären rund 700 Millionen Menschen, jene, die in tief liegenden Küstengebieten leben. Dabei würde der Eisschwund des Südpols wegen der Gravitationskraft eher den Pegel auf der Nordhalbkugel heben. Städte wie Shanghai, Miami, Venedig, Amsterdam und Hamburg gehen dann baden.

„COMING SOON to sea level near you / Just a hunk of Ice trying to keep it together“, heißt es auf einem eigenen „X“-Profil (ehemals Twitter) des Thwaites-Gletschers, den unbekannte Klimabesorgte angelegt haben. Heißt so viel wie: „BALD auf Meereshöhe in ihrer Nähe. Nur ein Stück Eis, das versucht, zusammenzuhalten.“ Mit weniger Galgenhumor informiert das Profil über die Frage, die die Fachwelt seit Langem beschäftigt: Wie kann etwas verhältnismäßig so Kleines wie ein Gletscher einen so großen Einfluss auf den Planeten haben? 

Schon in den Siebzigerjahren warnte die Wissenschaft vor der besonderen Topologie des Thwaites-Gletschers, „Marine Ice Sheet Instability“ genannt – kurz: Misi. Anders als auf Grönland setzt nicht warme Luft dem Gletscher zu, sondern immer wärmer werdendes Ozeanwasser. Weil das Festland in der Westantarktis abfallend unter der Meeresoberfläche liegt, kann sich die warme Meeresströmung immer mehr unter den Gletscher fressen – er taut von unten (siehe Grafik, Seite 64). Eine Forschungsgruppe der Universität von Kalifornien wies mit hochauflösenden Satellitendaten erst kürzlich nach, dass warmes Ozeanwasser bereits tief in den Thwaites-Gletscher eindringt. Dieser Energieeintrag von unten führe zu einem „kräftigen Schmelzen“. Der Korken drohe zu „explodieren“. Die Situation sei wesentlich besorgniserregender als angenommen, schreiben die Forschenden im Fachmagazin PNAS.

Nicht viele Menschen waren in der Vergangenheit auf dem abgelegenen Thwaites-Gletscher, nicht einmal sein Namensgeber, der Gletscherforscher Fredrik T. Thwaites (1883 – 1961). Das änderte sich erst 2018 mit Gründung der „International Thwaites Glacier Collaboration“ (ITGC), einer 50-Millionen-Dollar-Studie, an der mehr als 100 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus der ganzen Welt beteiligt sind.

Die Vorbereitung für die Vermessung des Eises dauerte Jahre. Der Thwaites-Gletscher sei „selbst für antarktische Verhältnisse“ sehr abgelegen, erklärte ein wissenschaftlicher Leiter des ITGC-Projektes. 1600 Kilometer ist die nächste große Forschungsbasis entfernt, die von den USA betriebene McMurdo-Station. 

Vor allem wegen des Wetters seien die Arbeitsbedingungen sehr schwierig. Ein Team saß über zwei Wochen auf McMurdo fest. Starke Stürme verhinderten, dass es mit Propellerflugzeugen zum Gletscher weiterfliegen konnte. Auch Tonnen von Fahrzeugen, Ausrüstung, Zelten, Lebensmitteln, Messgeräten und Treibstoff mussten aufwendig zum Gletscher transportiert werden. Einige Wissenschaftler campierten den kompletten antarktischen Sommer bis März auf dem Eisbrocken, bei Temperaturen bis minus 30 Grad Celsius und oft extremen Winden. 

Zwei Grad über Gefrierpunkt

Ein Forschungsteam stationierte dicht an der sogenannten Grundlinie oder Aufsetzlinie des Thwaites-Gletschers. Entlang dieser Linie löst sich der Gletscher von seinem festen Felsbett tief unter dem Meeresspiegel, schiebt sich ins offene Meer und schwimmt dort als Schelfeisplatte auf. Etwa 600 Meter dick ist diese stützende „Zunge“. 

Mit Heißwasser bohrten die Eisexperten dort ein Loch und ließen Icefin hinab, einen torpedoförmigen, mit Kamera und Sensoren ausgerüsteter Tauchroboter. Für die Beteiligten seien die Aufnahmen wie „ein Spaziergang auf dem Mond“ gewesen. Erstmals konnten sie einem so wichtigen Eisgiganten beim Schmelzen zusehen. Die Messdaten lieferten besorgniserregende Erkenntnisse: Die Wassertemperatur an der Grundlinie des Gletschers liegt demnach bereits mehr als zwei Grad über dem Gefrierpunkt. 

Eine weitere Untersuchung legt nahe, dass große Teile des aufschwimmenden Eisschildes innerhalb weniger Jahre abbrechen könnten. Hierauf deuteten Risse und Eisbewegungen. Satellitenbilder zeigten, dass sich die Bewegung des Eises entlang dieser Risse beschleunige, sagte Erin Pettit, Glaziologin an der staatlichen Universität von Oregon. Man könne sich das Schelfeis des Gletschers vorstellen wie eine Windschutzscheibe, in der sich langsam Risse ausbreiten, so Pettit: „Man denkt sich: Ich sollte mir eine neue Windschutzscheibe kaufen. Und eines Tages – peng – gibt es dort eine Million weiterer Risse.“ Ähnlich werde auch das östliche Schelfeis zerbersten, vermutlich in Hunderte von Eisbergen.

Zerbricht das Schelfeis, dürften große Teile des Gletschers viel schneller ins Meer fließen. Noch bremse der Eisschild den Fluss. Aber schlimmstenfalls könnte sich die Fließgeschwindigkeit an diesen Stellen verdreifachen, folgerte Pettit. Thwaites Beitrag zum globalen Anstieg des Meeresspiegels würde so um mindestens einen Prozentpunkt ansteigen. 

Die erstmalige Kartierung des Thwaites-Untergrunds enthüllte, dass sich eine „abwechslungsreiche Landschaft“ unter dem 800 bis 1200 Meter dicken Eis des Gletschers befindet – mit Hügeln und Klippen, aber auch ebenen Flächen. „Am meisten überrascht hat uns, wie viele subglaziale Seen es unter dem Gletscher gibt, zum Teil bis zu 100 Meter tief“, berichtet AWI-Forscher Olaf Eisen. Form und Eigenschaften des Untergrunds erlaubten Rückschlüsse auf seine Mobilität und Anfälligkeit. Eisen sagt: „Es gibt Elemente, die regelrechte Rutschbahnen bilden, andere Abschnitte dagegen wirken wie Bremsen.“

Ein Vorhang für den Südpol

Diese bisher unbekannten Eigenschaften des Gletscherbetts gehören zu den wichtigsten Eingabedaten für Eisfließmodelle, die den zukünftigen Verlust des Eisschilds vorhersagen sollen. Zuvor hat man den oberflächlichen Eisfluss des Thwaites fast ausschließlich anhand von Satellitenbildern abgeschätzt und berechnet. Noch im Herbst wollen die ITGC-Arbeitsgruppen ihre abschließenden Ergebnisse vorstellen. 

Einige Wissenschaftler wollen sich indes nicht mehr damit zufriedengeben, „einfach nur den Untergang der Umwelt zu dokumentieren“ und laborieren an Rettungsaktionen für den Weltuntergangsgletscher. Ihre technischen Maßnahmen klingen oft abenteuerlich. Der finnische Gletscher- und Klimaexperte John Moore will gemeinsam mit Experten der Cambridge-Universität einen etwa 100 Kilometer langen und 200 Meter hohen Unterwasservorhang installieren, der das warme Meerwasser vom Gletscher fernhält.

Um Schaden an der Umwelt zu verhindern, dürfe der Vorhang keine starre Barriere, sondern schwimmfähig sein – somit wirke die Auftriebskraft gegen die Druckkraft des Wassers. Als Material kämen Leinwände, Glasfaser- und Stahlrohre infrage. Moore schätzt, dass so ein Vorhang rund 50 Milliarden Dollar kosten würde. Er sei optimistisch, dass die 29 Länder des Antarktisvertrags dafür aufkämen. Schließlich würde der globale Meeresspiegelanstieg deutlich höhere Kosten nach sich ziehen. 

Helles Warnlämpchen

Der Ersatzplan des Glaziologen Slawek Tulaczyk aus Santa Cruz in Kalifornien sieht zunächst Heißwasserbohrungen vor. Mit etlichen Pumpen will er dann das Wasser aus den subglazialen Seen an die Oberfläche holen. Noch bevor das Wasser aus dem Gletscher sprudele, würde es an der antarktischen Oberfläche zu winzigen Kristallen gefrieren und „wie eine Schneekanone“ funktionieren. Das restliche Wasser unter dem Eis, hofft Tulaczyc, würde wahrscheinlich zu den leeren Seen fließen und Teile der Gletscherunterseite austrocknen. 

Mit etwas Glück löse dies eine kühlende Rückkopplungsschleife aus. Thwaites würde an Ort und Stelle gefrieren. Ein katastrophaler Anstieg des Meeresspiegels würde vermieden. Die Menschheit hätte Zeit, die Kurve zu kriegen. Der Nachteil: All das Bohren und Pumpen, die Traktoren und Lager würden so viel Energie verbrauchen wie eine Kleinstadt. Andere Wissenschaftler wollen Wärme statt Wasser abpumpen, indem sie röhrenförmige Siphons in die Bohrlöcher hinablassen. Siphons brauchen keinen Dieselkraftstoff. Sie werden allein durch Temperaturunterschiede angetrieben.

Ob sich derlei Missionen in großem Maßstab umsetzen lassen, ist in der Fachwelt umstritten. Die günstigste, effektivste und langfristigste Lösung gegen die Folgen des Klimawandels sei überhaupt nur die Reduktion von CO2, meint Eisen, auch Professor an der Universität Bremen. Er hält die Bezeichnung Weltuntergangsgletscher ohnehin für Unsinn. „Der Meeresspiegelanstieg ist etwas, worauf sich eine Gesellschaft über Jahrzehnte anpassen kann, über Jahrhunderte sowieso“, sagt er. Das größere Problem sieht er in Dürren und Überschwemmungen, die weltweit die Lebensgrundlagen gefährdeten. „Thwaites ist nur ein helles Warnlämpchen, das wir gerade in der Antarktis sehen.“