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So eroberte Amerika unsere kulturellen Vorlieben

So eroberte Amerika unsere kulturellen Vorlieben

Europa spielt im Geschäft mit dem weltweiten Entertainment kaum mehr eine Rolle. Der französische Soziologe Frédéric Martel erklärt, weshalb Dünkel dem Erfolg im Weg steht, wie die Kultur zur Industrie wurde und warum Popcorn einst das Kino revolutionierte.

Im Drive-in der 1950er Jahre gewöhnten sich die Besucher daran, im Kino zu essen und zu trinken.

Im Drive-in der 1950er Jahre gewöhnten sich die Besucher daran, im Kino zu essen und zu trinken.

New York Times Co. / Hulton Archive / Getty

Frédéric Martel, welches ist Ihr liebstes Buch?

«Eine Zeit in der Hölle», ein Prosaband des französischen Dichters Arthur Rimbaud. Ich besitze ein Exemplar der Originalausgabe von 1873.

Ihr Lieblingssong?

Da muss ich zwei nennen: «Angel» von Aretha Franklin und «Changes» von David Bowie.

Der beste Film aller Zeiten?

Nochmals zwei, bitte: «Citizen Kane» von Orson Welles und «Taxi Driver» von Martin Scorsese. Aber ich bin auch ein Fan von «Spider-Man».

Zur Person

Frédéric Martel (56)

Leonardo Cendamo / Getty

Frédéric Martel (56)

studierte in Paris Soziologie, Politwissenschaften und Philosophie und arbeitete als Kulturattaché in der französischen Botschaft in Washington DC. Er hat mehrere Bücher geschrieben, darunter «Mainstream – wie funktioniert, was allen gefällt» und «Sodom – Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan». Seit 2020 ist Martel Professor für Kreativökonomie an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und Direktor des «Zurich Center for Creative Economics».

Eine interessante Auswahl, von der Hochkultur bis zur Populärkultur.

Das liegt wohl daran, dass ich ein sogenannter Klassen-Überläufer bin. Ich habe die soziale Klasse gewechselt, und das zwei Mal. Aufgewachsen bin ich auf einem Bauernhof in einem südfranzösischen Dorf, wo es keinerlei Hochkultur gab. Wir hatten auch keinen Fernseher, ich ging kaum ins Kino, aber ich holte mir viele Bücher aus der Bibliothek. Als ich mit zwanzig in Paris Soziologie zu studieren begann, verschrieb ich mich ganz der elitären Kultur: ich las nur klassische Literatur, schaute nur Arthouse Movies, später arbeitete ich beim elitärsten Radiosender überhaupt, France Culture. Erst als ich für einige Jahre in den Vereinigten Staaten lebte, wurde mir klar, wie stark ich zu einem Produkt der kulturellen Elite geworden war.

Wie meinen Sie das?

Das Konzept stammt vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Er beschrieb, wie das kulturelle Kapital funktioniert: wie sich die Elite durch ihren kulturellen Geschmack, ihre Vorlieben, ihre Sprache und ihr Wissen abgrenzt von anderen Klassen.

Was hat sich für Sie in den USA verändert?

Ich wurde misstrauischer gegenüber dieser Elite, zu der ich gehörte, und der Debatte, was Kunst und was «nur» Unterhaltung ist. In den USA begann mich zu interessieren, wie Blockbuster, Bestseller und Hits entstehen, weshalb das amerikanische Modell des Massenentertainments die Welt beherrscht. Um mein Buch «Mainstream» zu schreiben, das 2011 herauskam, kehrte ich zurück in die arme, ländliche Klasse, aus der ich ursprünglich stamme.

Was bedeutet Mainstream in der Kultur?

Es ist Kultur, die sehr vielen Leuten gefällt. Ich mag den Begriff, weil er neutraler ist; in «Populärkultur» oder «Massenkultur» steckt ja bereits eine Kritik.

Sie schrieben einmal, jeder Europäer habe zwei Kulturen: die eigene und die amerikanische.

Daran hat sich nichts verändert. Europa ist nach den USA der grösste Produzent von kulturellen Inhalten, von Filmen, Büchern, Musik. Aber es gibt keinen europäischen Markt für diese Inhalte. Wenn sich 28 Teenager aus 28 europäischen Ländern treffen, bringt jeder die Kultur aus seiner Region mit, ein Schweizer kennt also Schweizer Bands, hat Schweizer Filme und Serien gesehen, Schweizer Bücher gelesen. Aber die Kultur, die alle 28 Teenager teilen, ist leider vor allem die amerikanische.

Gibt es einen universellen Geschmack?

Das ist eine schwierige Frage. Man könnte antworten, ja, es gibt weltweit einen genuinen kulturellen Geschmack, den Amerika am besten bedient. Oder man sagt, dieser Geschmack habe sich durch den starken Einfluss der amerikanischen Kultur überhaupt erst gebildet. Ich weiss nicht, was stimmt.

Wie konnte Amerika diese kulturelle Vorherrschaft überhaupt erringen?

Es gibt einen Moment in der amerikanischen Geschichte, der für mich den Wandel symbolisiert: der 17. März 1941. Davor, im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, hatten sich die USA kulturell stark an Europa orientiert, jeder gebildete Amerikaner wollte wie ein Europäer sein, man las europäische Bücher, hörte in Orchestern europäische Musik, schaute sich in den Museen europäische Kunst an. Bei der Eröffnung der National Library hielt Präsident Roosevelt dann eine berühmte Rede, in der er sagte, ich fasse das aus der Erinnerung zusammen: Die Zeit, in der sich Amerika Europa kulturell unterlegen gefühlt, in der man stets nach Europa geblickt habe, sei vorbei. In Amerika entstand ein neues kulturelles Selbstbewusstsein, gleichzeitig wurde die Kultur Schritt für Schritt industrialisiert. Diese Filmindustrie, Musikindustrie, Buchindustrie prägten dann den globalen Mainstream. Wobei: Beim Film war Amerika vorher führend.

Schauen wir uns das Kino genauer an: Anfang des 20. Jahrhunderts hatten Länder wie Frankreich, Italien und Russland das Filmschaffen dominiert.

Ja, aber dann legten zwei Weltkriege Europa in Schutt und Asche. In Hollywood hingegen hat sich in dieser Zeit ein Studiosystem entwickelt, bei dem eine Handvoll Firmen den grössten Teil des Filmgeschäfts kontrollierten: Paramount Pictures etwa, 20th Century Fox, Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) oder Warner Bros.

Die sogenannte Traumfabrik.

Es war tatsächlich eine Art Fabrik, und sie war immer gewinnorientiert. Alle Drehbuchautoren, Regisseure, Techniker und Schauspieler waren Angestellte der Studios, man arbeitete gewissermassen am Fliessband. Doch die Filmindustrie war auch mehr als eine Fabrik: Die Studios kontrollierten jeden Schritt des Geschäfts. Sie übernahmen nicht nur die Produktion, sondern auch den Vertrieb der Filme und betrieben eigene Kinos – in denen sie natürlich nur ihre eigenen Filme vorführten. Sie bestimmten also, welche Filme gemacht und wo sie wann für wie lange gezeigt wurden.

Die Filme mussten dem Publikum gefallen.

Aber die Studios entschieden, welche Filme das Publikum überhaupt zu sehen bekam. Selbst die unabhängigen Kinos konnten damals nicht einfach einen einzelnen A-Movie eines Studios buchen, sondern nur Pakete mit fünf Filmen, von denen vier oft mittelmässige B-Movies waren. Es gab kaum Platz für Konkurrenz. Diese Studios waren Geldmaschinen. Gleichzeitig wurde Hollywood vor und während des Zweiten Weltkriegs zum Magnet für Filmschaffende aus Europa, vor allem auch jüdische, die Kreativität ballte sich also in Los Angeles. Das ist bis heute so: Die kreativsten ­Köpfe der Welt zieht es nach Hollywood. Diese zwei Faktoren sind entscheidend für Amerikas kulturelle Vorherrschaft: die konzentrierte und vielfältige Kreativität und die konsequente Orientierung am Markt.

Damit ein Massengeschmack entstehen konnte, musste man die Filme zu den Massen bringen.

Und die Orte, wo Filme gezeigt wurden, veränderten das Publikum. In den 1920ern und 1930ern erinnerten die Lichtspielhäuser in den Innenstädten mit Marmor und roten Teppichen an Theater und richteten sich an die erwachsene Mittelschicht. Als die Autokinos populär wurden, verlagerte sich das Filmerlebnis zunehmend in die Vorstädte. Der Wechsel war rasant: 1945 gab es in den USA knapp 100 Drive-ins, zehn Jahre später waren es 4000, und es wurden dort mehr Tickets verkauft als in herkömmlichen Kinos. Das Publikum bestand nun hauptsächlich aus jungen Leuten und Familien mit Kindern. Denn man hatte im Auto Privatsphäre, musste sich nicht zurechtmachen, und der Eintritt war viel billiger. Und: In den Drive-ins gewöhnten sich die Leute an, im Kino zu essen und zu trinken.

Popcorn!

Genau. Das Wort setzt sich übrigens zusammen aus «Pop Soda» für Sprudellimo und «corn» für Mais, zwei untrennbare Dinge mit grossem Einfluss auf die Entwicklung des Kinos. Die Maisindustrie erkannte im Kino den Absatzmarkt für ihre Überschüsse; um den Verkauf anzukurbeln, schaltete man viel Werbung. Ich habe einmal Dan Glickman interviewt, den früheren CEO der Motion Picture Association of America, dem Verband der grossen Filmstudios. Er war davor der amerikanische Landwirtschaftsminister gewesen. Dan sagte, das sei eigentlich fast der gleiche Job. Als Landwirtschaftsminister habe er Mais angebaut, als Chef des Filmverbandes verkaufe er ihn.

Die Autokinos veränderten das Publikum, wie hier im Jahr 1960. Nun kamen vor allem Teenager.

Die Autokinos veränderten das Publikum, wie hier im Jahr 1960. Nun kamen vor allem Teenager.

Wayne Miller / Magnum

Warum war Popcorn so wichtig für die Kinos?

Weil die Kinos wegen der Nebenverkäufe so rentabel waren. Mit den Multiplexkinos, die ab den 1960ern entstanden und herkömmliche Kinos zunehmend verdrängten, verstärkte sich das. Und die Betreiber waren erfinderisch. Sie gaben dem Popcorn ein spezielles Salz oder Salzbutter bei, um das Publikum durstig zu machen und dadurch mehr Getränke abzusetzen.

Auch Pepsi und Coca-Cola mischten im Kino mit.

Der Kampf der Konzerne konzentriert sich seit den 1950ern auf die Kinosäle, wo man die Jugend als Zielgruppe entdeckte. Die Kinoketten schlossen Exklusivverträge mit der einen oder anderen Firma ab, wofür sie mit Werbung und Rabatten belohnt wurden. Der Kinomarkt war so wichtig, dass Coca-Cola in den 1980ern das Filmstudio Columbia Pictures aufkaufte und Pepsi eine Zeitlang Universal besass. Andererseits gehörten der Firma General Cinema, einem Riesen mit über 400 Multiplexkinos, mehrere Pepsi-Abfüllanlagen.

Wie veränderte das Multiplexkino den Markt?

Die Komplexe erlaubten mehr Diversität, weil man gleichzeitig verschiedene Filme zeigen konnte. Allerdings lief oft einfach ein Blockbuster zu unterschiedlichen Zeiten in mehreren Sälen, damit die Leute nicht auf die Startzeit achten mussten. Auch hier kamen vor allem Teenager und Familien, denn Multiplexe waren sauber, sicher, klimatisiert. Sie eroberten von den USA aus die Welt, prägten das Kinoerlebnis in Europa, vor allem aber in China, Mexiko, Indien oder Brasilien. Amerika exportierte also nicht nur Filme, sondern auch das Konzept, wie man Filme anschaut.

Warum hielt der europäische Film nicht Schritt?

In den 1950ern und 1960ern gab es in Europa noch recht starke Filmindustrien mit internationaler Ausstrahlung, in Frankreich die Nouvelle Vague, in Italien Fellini, Pasolini, Visconti und meinen Favoriten Rossellini, in Deutschland Fassbinder. Aber in den 1980ern war das mehr oder weniger vorbei. Filme in Europa richten sich in der Regel nicht an den globalen Markt, nicht einmal an den europäischen, sondern an den Heimmarkt. Wie viele französische Filme hat ein Deutscher in den vergangenen Jahren gesehen, wie viele italienische ein Franzose? Und die wenigen europäischen Filme, die in ganz Europa erfolgreich werden, nehmen oft den Umweg über die USA, zum Beispiel, indem sie dort einen Oscar gewinnen.

Gibt es deshalb nur amerikanische Blockbuster?

Das liegt natürlich auch am Geld und am ausgefeilten Marketing. Viele Staaten fördern ihre Filmemacher, aber niemand kann mit den 400 Millionen Dollar konkurrieren, die Hollywood in einen Blockbuster investiert. In Europa herrscht aber auch dieses Misstrauen: Ist etwas kommerziell erfolgreich, gilt es als künstlerisch zweifelhaft. Die amerikanische Kulturindustrie hingegen war immer pragmatisch. Man schaut den Markt an und bedient ihn. Und Hollywood weiss, wer das treuste Publikum ist: junge Leute, die ausgehen, also die Altersgruppe von 14 bis 25. Und Eltern mit kleinen Kindern, die ein gemeinsames Erlebnis suchen. Filme, die Blockbuster werden, sind in der Regel für eine dieser beiden Zielgruppen gemacht.

Richtet Hollywood seine Filme stärker aufs Publikum aus?

Man arbeitet seit langem mit Umfragen und Fokusgruppen, um Storys zu entwickeln, die den Kunden gefallen, und mit Testscreenings, um die Reaktion vor dem Filmstart zu testen. Danach wird vielleicht anders geschnitten oder sogar das Ende verändert. Und schon vor der Entscheidung, ob ein Film gemacht wird, definiert man das potenzielle Publikum anhand weniger Kriterien.

Welche?

Das Alter und das Geschlecht, manchmal noch die Ethnie. Man schaut, ob sich ein Film an über oder an unter 25-Jährige richtet und ob er für Männer oder Frauen gedacht ist. Am erfolgversprechendsten sind Vier-Quadranten-Filme, die beide Geschlechter und Altersgruppen ansprechen. Riskant sind Filme, die womöglich nur Frauen unter 25 gefallen. Denn Studien zeigen, dass Mädchen zwar Jungs in Actionfilme begleiten, Jungs aber so gut wie nie mit in «Mädchenfilme» gehen. Darum werden wenig solche Filme gedreht. Mir scheint das sexistisch, doch Hollywood funktioniert so.

«Barbie» war im vergangenen Jahr ein Riesenhit.

Natürlich gibt es Ausnahmen, Filme, die ein riesiger Erfolg werden, obwohl Marktstudien dagegensprechen. «Brokeback Mountain», der Film von Ang Lee über zwei schwule Cowboys, war etwa so ein Fall. Aber in der Regel sind Filme für Erwachsene mit mittlerem Budget schwierig. Das finanzielle Risiko ist immer noch hoch, und Erwachsene sind unberechenbar. Sie lassen sich oft nicht ins Kino locken, selbst wenn ein Film für sie gemacht ist und die Kritiken gut sind. Und in Europa dreht man viele solche Filme: Filme für Erwachsene aus der eigenen Kultur.

Ist es überhaupt ein Problem, dass die amerikanischen Filme in unseren Kinos so erfolgreich sind?

Das ist eine Frage der Perspektive. Manche Länder schützen ihr Filmschaffen mit Quoten. Ich finde, es gibt bessere Methoden. In Frankreich gehen 13 Prozent vom Preis des Kinotickets an die Filmförderung. US-Blockbuster finanzieren also die französische Filmindustrie!

Gab es in den USA dieses Misstrauen gegenüber dem Mainstream früher eigentlich auch?

Ja, für viele amerikanische Intellektuelle war das amerikanische Kino lange keine Kunst. Die Kritiker im «New Yorker» etwa, dem Magazin für die Kulturelite, waren in den 1950ern und 1960ern besessen von europäischen Filmen. Das veränderte sich mit der 68er Bewegung, und dieser Wandel zeigt sich an der ersten Filmkritikerin des «New Yorkers», Pauline Kael.

Was passierte?

Kael hatte davor in Frauenzeitschriften wie «Vogue» den Regisseur Jean-Luc Godard und die Nouvelle Vague in den Himmel gelobt. Beim «New Yorker» hingegen schrieb sie ab 1968 ernsthafte Kritiken über populäre Filme und warf so die Werte der Elite über den Haufen. Kael mochte «Der weisse Hai», die ersten beiden Teile von «Der Pate», «Shining» und «Indiana Jones». Dafür rechnete sie mit dem Autorenkino ab, weil sie fand, Autoren brächten Filme um, indem sie das Storytelling entwerteten. Sie brach sogar mit Godard.

Inwiefern?

Sie hielt seine politischen Filme für naiv und vor allem langweilig. Auf einer Podiumsdiskussion griff sie ihn sogar direkt an. Dort sagte sie: «Jean-Luc, je marxistischer Ihre Filme wurden, aus desto reicheren Schichten stammte Ihr Publikum.»

Wie reagierten die Leser auf Kaels Kritiken?

Mit Begeisterung und mit Hass, Tausende von Zuschriften forderten ihre Entlassung. Aber Kael fand, Kino müsse unterhalten. Einmal fragte sie: Was ist Kunst denn, wenn sie kein Entertainment ist, eine Strafe? Allerdings überwarf sie sich später mit Teilen Hollywoods, weil sie die «Infantilisierung» beklagte und Filme wie «Star Wars» verriss. Dessen Regisseur George Lucas benannte gar einen Bösewicht nach ihr, General Kael in «Willow». Doch es war Pauline Kael, die Mainstream-Filme intellektuell respektabel machte.

Während der Recherche für Ihr Buch hatten Sie Länder wie Indien oder China besucht, die mit ihrer Filmindustrie den globalen Mainstream beeinflussen wollten. Ist das jemandem gelungen?

Das ist schwierig zu sagen. Früher waren Kulturprodukte ja tatsächlich Produkte, die einen Zoll überqueren mussten, also Bücher, DVD, CD. Inzwischen sind sie zu Inhalten geworden, die im Netz reisen. Es gibt deshalb keine genauen Daten mehr. Indien ist nach wie vor ein Player im globalen Filmgeschäft, allerdings gehen die Zahlen leicht zurück. Früher wurden viele indische Produktionen in Drittweltländer verkauft, weil die Rechte für die amerikanischen viel teurer waren – und weil sich die Werte ähneln, die darin in Bezug auf Sexualität oder Familie vermittelt werden. Inzwischen sind die Preise für US-Produktionen gesunken, insofern ändert sich das. Indien ist aber immer noch stark auf dem Heimmarkt, etwa 80 Prozent der Einnahmen entfallen auf eigene Produktionen.

Und China?

In China haben eigene Filme auch einen recht hohen Marktanteil, aber nur, weil sich das Land abschottet. In chinesischen Kinos dürfen nur rund 20 Hollywoodfilme pro Jahr gezeigt werden, die aber trotzdem 50 Prozent der Einnahmen ausmachen. China ist global gesehen der grösste Markt, spielt aber selbst auf dem globalen Markt keine Rolle, obwohl man viel Geld in Filme investiert. Es gibt keinen internationalen chinesischen Blockbuster, und das liegt wohl daran, dass man zu viel Kontrolle ausüben will.

Inzwischen sind viele Filmstudios im Besitz von internationalen Konzernen, Columbia Pictures oder TriStar Pictures etwa gehören Sony, mit Hauptsitz in Japan. Wie viel Kontrolle üben sie aus?

Interessant ist, dass auch Studios in ausländischem Besitz weiter amerikanische Unterhaltung produzieren. Ich habe Iwao Nakatani, den früheren Sony-Präsidenten, einmal gefragt, wer grünes Licht für «Spider-Man» gegeben habe. Er antwortete, er sei es nicht gewesen, er habe auch nie ein Budget gesehen oder bewilligt. Einen Film zu machen sei allein die Entscheidung des Teams in den USA. Diese Aussage ist wichtig, um zu verstehen, wie die Filmindustrie heute funktioniert: Früher kontrollierte das Studio den ganzen Prozess, heute ist das Studio in erster Linie eine Bank. Jeder Film ein eigenes Unternehmen, für das Tausende von Firmen angeheuert werden. Im neuen Hollywood arbeiten fast alle Akteure unabhängig. Das Studio trägt nur noch das finanzielle Risiko und besitzt die Rechte, das hat das System extrem flexibel gemacht. Ich möchte aber noch zwei weitere Faktoren nennen, die für die Vormacht Hollywoods entscheidend sind.

Bitte.

Einerseits die Diversität. Der amerikanische Markt ist eigentlich bereits der Weltmarkt, einfach verkleinert. Ist in Frankreich ein französischer Film erfolgreich, weiss man, dass ihn die Franzosen mögen – das sagt aber nichts darüber aus, ob er anderswo Erfolg haben könnte. In den USA leben Millionen von Menschen aus Mexiko, Lateinamerika, China, Indien, dem Nahen Osten… Die Kreativindustrien können zu Hause testen, ob ihr Produkt das Zeug hat, die Welt zu erobern.

Und der zweite Faktor?

Die Rolle der Universitäten. In Europa vermittelt man in der Universität Theorie, und der Markt soll möglichst keine Rolle spielen. Amerikanische Universi­täten stehen in direktem Austausch mit der Kreativindustrie. Zum Beispiel an der University of Southern California, einer der renommiertesten Filmschulen. Sie ist wie ein echtes Filmstudio organisiert, damit echte Filme entstehen; die technische Ausstattung wird von den Studios finanziert und ist State of the art. Die Studierenden müssen bei Prüfungen ein professionelles Kulturprodukt präsentieren, es gibt dafür ein Budget, das bei gegen 100000 Dollar pro Film liegen kann. In solchen Universitäten, es gibt mehrere davon, wachsen Talente heran, die experimentieren, viele Ideen werden später in den Studios ausgearbeitet. Diese Universi­täten sind praxisorientiert, ohne Berührungsängste mit dem Markt. Und kaum jemand befürchtet, zu wenig künstlerisch und zu kommerziell zu sein.

Wird die Frage «Kunst oder Kommerz» noch gestellt?

Ich glaube, sogar in Frankreich, wo die Hierarchisierung der Kultur am ausgeprägtesten ist, hat sich das verändert. Kaum jemand würde noch ernsthaft behaupten, nur Dinge wie Avantgarde-Theater könnten Kunst sein und Serien oder Filme wie «Spider-Man» nicht. Die Art, wie ein Künstler eine Geschichte erzählt, wie ein Film gedreht und geschnitten ist, kann raffiniert und wahrhaftig sein, auch bei einem Blockbuster. Persönlich finde ich, Kino sollte Kunst und Unterhaltung zugleich sein, nicht eins von beidem. Aber die ewige Debatte darüber ist aus einem anderen Grund hinfällig geworden.

Weshalb?

Kunst und Entertainment stehen heute auf der gleichen Seite, sie treten gemeinsam gegen einen neuen Gegner an. Unsere Zeit und Aufmerksamkeit wird zunehmend auf die sozialen Netzwerke gelenkt, auf 15-Sekunden-Videos auf Tiktok, Storys auf Instagram, Memes auf Snapchat. Der Feind heute ist die sinnlose Zerstreuung.

Was ist das Problem daran?

Vielleicht bin ich zu alt, um Gen Z und Gen Alpha zu verstehen. Aber für mich ist es ein Problem, stundenlang zu scrollen und sich an nichts zu erinnern. Wenn man sich einen Film ansieht, kann das ein schlechter Film sein, aber er hat immerhin eine Geschichte, eine Richtung. In den sozialen Netzwerken verlieren wir uns. Ich bin nicht technophob, ich schätze viele der neuen Möglichkeiten. Aber ich sehe die Gefahren, die diese Art von Zeitvertreib mit sich bringt. Natürlich kann man sich mal mit dummen, sinnlosen Dingen beschäftigen, aber das endlose Scrollen sollte nicht unser Leben und unsere Kultur ausmachen. Werden wir in zwanzig Jahren noch Bücher lesen oder Filme schauen, oder werden wir durch die sinnlose Zerstreuung einen Teil unserer Kulturtechniken verlieren? Ich weiss es nicht.


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