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Wie geht es nach dem Abi weiter?

Wie geht es nach dem Abi weiter?

Als ich 2017 mein Abitur in der Tasche hatte, fühlte es sich an, als stünde ich am Scheideweg meines Lebens. Die Abitur-Abschlussrede klang mir noch im Ohr. Die Zukunft breite sich vor uns aus wie ein neues Land, hatte es geheißen. Es gelte, neue Wege zu gehen, mutig zu sein. „Keine Entscheidung zu treffen, ist auch eine Entscheidung“ und „Wege entstehen im Gehen“ waren zwei altkluge Schlussfolgerungen der Rede. Sie hätte von mir sein können. War sie auch.

Nach einem Jahr Selbstfindung in Schottland hatte ich genauso wenig Ahnung, was meine Zukunft bringen sollte. Schwitzend klickte sich mein 18-jähriges Ich auf dem Boden eines WG-Zimmers durch die Studiengänge in den von mir favorisierten hippen Studi-Städten. Vom ersten Fund „Ethnologie“ waren meine Eltern nicht begeistert. Das traf mich tief, wollten sie etwa nicht, dass ich meinen Träumen folge? 

Viele Abiturienten sind angesichts der vielen Möglichkeiten überfordert

Mit dem Abstand der Jahre kann ich diese Phase mit mehr Humor betrachten. Doch damals, inmitten der Unsicherheit, war mir nicht nach Lachen zumute. Jedes Jahr erwischt junge Menschen nach dem Schulabschluss die Frage, was man „mal werden soll“. Darin ist schon einiges enthalten: Die Implikation, jetzt noch nichts zu sein; die Aufforderung, als „Großer“ etwas zu sein. Manche wissen seit der ersten Klasse, was das ist. Andere nicht. 2016 gaben rund ein Drittel der Abiturienten in einer Umfrage an, planlos zu sein, 2019 waren es laut Wirtschaftswissenschaftlerin Ulrike Bartholomäus 46 Prozent.

Inzwischen dürften es mehr sein. Auch, weil der Trend zum höheren Bildungsabschluss geht. Laut statistischem Bundesamt machen ein Drittel der Schülerinnen und Schüler Abitur, vor 20 Jahre waren es noch 23 Prozent. Rund 2,9 Millionen junge Erwachsene waren vergangenen Winter an deutschen Hochschulen eingeschrieben – weit mehr als doppelt so viel wie die Zahl derer, die eine Ausbildung absolvierten (1,2 Millionen). Wer die allgemeine Hochschulreife hat, hat die Qual der Wahl: allein in Deutschland gibt es knapp 22.000 Studiengänge. Die schier endlosen Optionen überfordern manche so sehr, dass sie in eine depressive Phase abrutschen. Muss das so sein? Wie viele kämpfen in dieser Reifezeit, die zu allem Überfluss als die „beste des Lebens“ gehandelt wird? Und was hilft?    

„Ich habe mich bei allem gefragt, will ich das wirklich mein Leben lang machen?“

Wenn man Felix fragt, was die größte Herausforderung seines Lebens war, muss der 18-Jährige aus dem Schwarzwald nicht lange überlegen. „Die Entscheidung, was ich nach der Schule mache“, sagt er. Hinter dem Jungen mit dem blonden Lockenkopf liegt ein schwieriger Sommer, nach einem glänzenden Abi von 1,0, das er im Frühjahr abschloss. Damit standen ihm alle Türen offen.

Bis zu diesem Punkt hatte Felix sich nur vage mit der Frage nach der eigenen Zukunft beschäftigt, die Berufsorientierung in der Schule lag schon einige Jahre zurück. In den meisten Bundesländern findet sie vor der Oberstufe statt, danach tritt sie in den Hintergrund. Das ist nicht unbedingt so vorgesehen, erklärt mir mein ehemaliger Lehrer Jürgen Roos, der am Theodor-Heuss-Gymnasium Esslingen für die Berufsorientierung zuständig ist. „Es wird ihnen nahegelegt, sich über das Punktesammeln fürs Abitur hinaus Gedanken zu machen – nicht nur vom Elternhaus, sondern auch vom Bildungsplan her“, sagt er. Allerdings hätten Schüler nicht wirklich Zeit dafür, weil sie mit der Vorbereitung aufs Abitur beschäftigt seien. Viele stünden anscheinend so unter Stress, dass sie sich einen nahtlosen Übergang in die Berufsausbildung nicht vorstellen könnten und erst mal Pause vom Lernen machen wollten.

Auch Felix wollte gerne die freie Zeit genießen. Es fiel ihm schwer, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und seine Zukunft zu organisieren, wie seine Mutter an ihn appellierte. Gleichzeitig hatte er es immerzu im Kopf. „Das war omnipräsent. Auch, wenn ich etwas anderes gemacht habe“, erinnert Felix sich. „Ich habe mich bei allem gefragt, will ich das wirklich mein ganzes Leben lang machen?“ Ihm sei zwar bewusst, dass das nicht mehr zwangsläufig so sei. „Aber trotzdem will man ja einen Beruf wählen, der potenziell das ganze Leben trägt. Damit wird die Berufswahl zur weitreichendsten Entscheidung, die man trifft – die den größten Einfluss auf das eigene Leben hat. Deswegen wiegt sie viel schwerer als die anderen.“

Roos vermutet, dass hinter der Antriebslosigkeit ein innerer Druck verbirgt

Gerade in Familien, in denen Kinder keine spezifischen Erwartungen der Eltern an einen schnellen Berufseinstieg erfüllen müssen, ist die Orientierungslosigkeit groß, erlebt Lehrer Roos. Dass Erwartungen da sind, denkt er trotzdem – Erwartungen der Eltern, aber auch gemischte Gefühle der Kinder beim Gedanke an die eigene berufliche Zukunft. Er vermutet, dass das bei manchen Kindern einen inneren Druck erzeuge, der oft mit Antriebslosigkeit verwechselt werde, und den man nicht so richtig fest machen könne.

Soziologe sagt: Die Einschätzungen der Eltern wirken lange nach.

Soziologe sagt: Die Einschätzungen der Eltern wirken lange nach.
Foto: Stock Adobe

War das bei Felix auch so? Erwartungen hätten schon eine Rolle gespielt, sagt er – auch die eigenen. „Ich hatte ein ziemlich gutes Abitur, mit dem man natürlich etwas machen will. Ich habe mir zum Beispiel überlegt, Medizin zu studieren.“ Und auch von außen war eine Neugierde da, in die sich manchmal Erwartung mischte – nicht zuletzt die, endlich eine Entscheidung zu treffen. Von Eltern und Verwandten seien oft Fragen gekommen, was er nun plane. „Und dann kommen Vorschläge, was man alles machen könne. Das macht es nicht unbedingt besser.“ 

Und dann sei „da noch der Hof“, sagt er. Denn in seinem Fall gibt es noch eine weitere Variable: Seine Eltern besitzen einen Bauernhof. Die Frage, wer diesen übernimmt, ist noch ungeklärt. „Das sagt zwar keiner direkt, dass ich den mal übernehmen soll, aber trotzdem ist einem bewusst, dass es gern gesehen wäre und man sich vielleicht eher einen Job sucht, bei dem in Teilzeit oder von zu Hause aus gearbeitet werden kann. Dann gäbe es immer noch die Möglichkeit, das weitermachen zu können.“

Eltern nehmen mit ihren Vorstellungen eine starke Prägung vor

Unter Druck gesetzt wurde Felix von daheim gar nicht, sagt er. Trotzdem zieht der 18-Jährige diese Gegebenheiten in seine Überlegungen mit ein. Das ist ein natürlicher Mechanismus, sagt der Soziologe Thorsten Bührmann. Eltern nähmen durch Wertevorstellungen und ihre Sicht auf Berufe eine „sehr starke Prägung“ vor. Er beobachtet, dass Aussagen, die Eltern treffen, von den Jugendlichen stark als ein Gütekriterium wahrgenommen werden.  Das merke man nicht immer direkt. Aber Studien hätten gezeigt, dass die Einschätzungen der Eltern lange nachwirken. 

Dass meine Eltern mir diktiert hätten, was ich studieren soll, kann ich wirklich nicht behaupten. Trotzdem haben sie nachhaltig das Bild geprägt, das ich von Berufen habe. Die Mythen vom Taxifahrenden Germanisten sind mir hinlänglich bekannt, meine Brüder haben schon lange den „Mohlschen Sozialfond“ gegründet – meine Absicherung, wenn ich als brotlose Straßenmusikerin ende. Der Kindheitswunsch Tierärztin wurde von meiner Familie mit trostlosen Schilderungen von Kuhbesamungen und dem Goldhamster-Kleintierpraxis-Alltag bebildert. Ich hätte ihn vermutlich auch selbstständig wieder verworfen. Aber als meine Mutter vor ein, zwei Jahren einmal sagte: „Vielleicht hättest du doch Tierärztin werden sollen“, ließ mich das aufhorchen. Erst durch ihren Sinneswandel erschien die Option plötzlich nicht mehr so abwegig. 

„Man sollte in dieser Phase niemandem sagen: Dafür bist du geeignet oder ungeeignet“

Gleichzeitig fühlen sich viele Eltern selbst überfordert. „Mein Kind weiß nicht, was es werden will“, „Was soll meine Tochter studieren?“, „Mein Sohn hat keine Perspektive“ oder „Berufe für Unentschlossene“ sind häufig gegoogelte Fragen. Manche suchen auch Berufsberatungen auf. So wie die Dienste von Uwe Kästner, einem Münchner Berufsberater mit über 25 Jahren Erfahrung. Fast immer würden die Eltern Anstoß zur Berufsberatung geben, berichtet er – und in 30 Prozent der Beratungsgespräche mit im Raum sitzen. „Das hat den Vorteil, dass die Eltern, insbesondere Mütter, gerne anfangen, zu plaudern und ein wenig zu erzählen. So erfährt man viele Dinge, die Jugendliche sonst nicht preisgeben würden“, sagt er. Vor allem angesichts der knappen Zeit einer Beratungsstunde sei das hilfreich.  

Zu ihm kämen zwei Arten von Schülerinnen und Schülern, so Kästner. Einerseits die, die intensiv auf das Abitur hingearbeitet hätten, beruflich aber „völlig orientierungslos“ sind. Das sei ein typisch weibliches Problem. Eher männlich sei die zweite Gruppe. „Das sind die, die eher ein mittelmäßiges Abi und bestimmte Ziele haben, diese aber nicht durchsetzen können“, sagt der Berufsberater. Er versuche im Gespräch, einen Überblick zu geben und mit den Kindern herauszufinden, welche Felder ihnen mehr zusagen. Dann könne er konkrete Ausbildungsrichtungen vorstellen.

Leistungs- und Eignungstests lehnt Kästner ab. Menschen seien in diesem Alter einem sehr starken Wandel unterworfen, die Persönlichkeitsentwicklung sei nicht abgeschlossen. „Man sollte in dieser Phase niemandem sagen, dafür bist du geeignet oder ungeeignet. Einfach, weil es wissenschaftlich erwiesen ist, dass das eine falsche Aussage ist“, sagt er. „Die Leute sind in einem Alter, in dem sie sich in jede Richtung entwickeln können, die sie wollen.“ 

Berufsberater: Berufe sind einem starken Wandel unterworfen

Für den Berufsberater ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass Berufe einem starken Wandel unterworfen sind. „Da kann man gar nicht mehr sagen, so sieht das Profil von Berufen in zwanzig Jahren aus.“ Das zeige sich auch am Angebot der Universitäten, es gebe viel mehr Studiengänge als früher. Dass sich die Studiengänge in den vergangenen zehn Jahren etwa verdoppelt haben, überfordere die Jugendlichen, sagt Kästner. „Auch die Berater sind überfordert“, sagt er. Aber im Grunde seien die Studiengänge gleichgeblieben. Viele stellten Verknüpfungen dar, um auf den Wandel in der Berufswelt zu reagieren. „Deswegen sind Studiengänge entstanden wie etwa Design und Mobilität. Wie ist das mit autonomen Fahren, wie sehen unsere Straßen aus, wie die Automobilbranche? Da gibt es große Unsicherheiten“, sagt er.  

Das Studium als schönste Zeit des Lebens: Dieses Bild wird von vielen Eltern noch transportiert. Aber viele junge Menschen empfinden das nicht mehr so.

Das Studium als schönste Zeit des Lebens: Dieses Bild wird von vielen Eltern noch transportiert. Aber viele junge Menschen empfinden das nicht mehr so.
Foto: Stock Adobe

Die vielen Optionen waren auch für Felix am schwierigsten. „Es gibt diese unglaubliche Auswahl an Studiengängen. Unter vielen kann man sich nichts vorstellen, wenn es nicht gerade Medizin ist“, sagt er. Eine Ausbildung zu machen, habe er sich auch vorstellen können, letztlich habe er aber zum Studium tendiert. „Es heißt immer, da kann man das Leben richtig genießen“, sagt der 18-Jährige.

Das Studium als schönste Zeit des Lebens: Dieses Bild wird von vielen Eltern noch transportiert. Aber ist das noch so? Die Bologna-Reform hat die Universitäten verändert. Mittlerweile sind die Anforderungen gestiegen, das Studium ist verschult und der Leistungsdruck hat zugenommen. Das hatte Auswirkungen auf das universitäre Leben, weiß Martin Blay. „Das ehrenamtliche Engagement in Hochschulgruppen hat abgenommen und viele Studierende pendeln mittlerweile, anstatt in die Unistadt zu ziehen“, sagt der Mentor für Studierende der Katholischen Hochschulgemeinde in Augsburg. Die Pandemie habe das universitäre Leben weiter verändert. „Corona hat wie ein Katalysator gewirkt und bereits vorhandene Prozesse beschleunigt“, sagt er. Das sei deutschlandweit zu beobachten.  

Ist das Studentenleben (noch immer) die schönste Zeit des Lebens?

Auf der Diskussionsplattform reddit wird rege diskutiert, ob das Studentenleben wirklich die schönste und erlebnisreichste Phase des Lebens ist. „Für mich definitiv nicht, nein“, ist die populärste Antwort. Die Meinungen gehen weit auseinander. „Es war großartig. Ich habe das sehr genossen. Würde ich immer wieder so machen“, schreibt ein User. „Für mich war es schlimmste Zeit meines Lebens. Wenn man mich nochmal vor die Wahl stellen würde, wäre ich lieber im Knast als im Studium“, antwortet ein anderer. „Ich glaube, das Studentenleben wird noch durch irgendwelche früheren Zeiten gehyped und hängt zusätzlich noch stark von der eigenen Person sowie Studium ab“, schreibt ein dritter User. Viele beschreiben Prüfungsstress, fehlendes Geld und fehlende Freizeit als Problem, andererseits werden die Flexibilität des Studiums, die Freiheit und das Sozialleben gelobt.  

Ernster sind die Einträge zum Thema Studienabbruch. Einige, die kurz davorstehen, exmatrikuliert zu werden, weil sie die Prüfungsanforderungen nicht schaffen, haben Hemmungen, sich ihrer Familie gegenüber zu äußern. Die Gruppe derer, die nicht aus eigener Motivation abbrechen, macht statistisch den größten Anteil der Studienabbrecher in Deutschland aus, meldet das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Fünfzehn Prozent wollen lieber Geld verdienen und praktisch arbeiten, während siebzehn Prozent ihr Studium abbrechen, weil sie nicht mehr hinter ihrer Wahl stehen können. Wer an diesem Punkt steht, hat oft schwierige Entscheidungen zu treffen.  

Für die jungen Menschen spielen Erwartungen eine große Rolle

Ich erinnere mich noch gut, wie ich nach dem zweiten Semester Medienwissenschaft in der heimischen Küche saß und begann, zu weinen. Schon länger hatte ich Zweifel an meinem Studium gehegt. Gleichzeitig war damit alles verknüpft, was ich mir an Freiheit im Erwachsenenalter aufgebaut hatte. Und was würde ich sonst machen? Es fühlte sich an, als stünde ich wieder vor dem Labyrinth, abermals am Scheideweg – wieder dabei, eine Weiche für die Zukunft zu legen, die mich möglicherweise irgendwo hinbringen würde, wo ich gar nicht hinwollte und dann zu viel investiert hätte, um wieder umzukehren.  

Bei anderen sind es die Erwartungen der Familie, die sie nicht enttäuschen möchten. Ein junger Maschinenbauer klagt im Netz sein Leid, seine Familie sei stolz auf ihn, aber er sei eigentlich nicht glücklich. Manche haben mehrere Abbrüche hinter sich, andere haben bereits (zu) viel Zeit investiert.

Benedikt, der im vergangenen Jahr seinen Master beendet hat, ist einer von ihnen. Für ihn begann die schwerste Entscheidungsphase gegen Ende des Masters. Alles davor habe einigermaßen Sinn gemacht. Doch dann begann er, seinen gesamten Werdegang anzuzweifeln. „Ich habe mein Studium angeschaut und gedacht, was habe ich eigentlich gelernt?“, berichtet er. Das sei ein schlimmes Gefühl gewesen. „Und dann bist du an einem Punkt, wo gesellschaftliche Erwartungen tatsächlich eine Rolle spielen. Und ich hatte das Gefühl, ich kann das nicht vermitteln, nach so vielen Jahren den Weg nochmal zu wechseln.“ 

Junge Menschen setzen sich häufig selbst unter Druck

Er habe sich unter Druck gefühlt und Angst gehabt, eine falsche Entscheidung zu treffen. „Ich denke, Richtungsentscheidungen sind immer schwierig, egal in welchem Alter man ist“, sagt der 28-Jährige. In seiner Generation sei es allerdings viel mehr möglich, die Wege später erneut zu wechseln. Zusätzlich sind die Erwartungen an das Leben seiner Einschätzung nach hoch. Man setze sich diesem Entscheidungsdruck also je nach Lebensphase immer wieder aus, was mehr Unsicherheit hervorruft.  

Dass junge Menschen sich selbst unter Druck setzen, beobachtet auch der Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Die Jugend setze sich hohe Ziele, man müsse bedenken, dass die heutige Lebensplanung äußerst komplex sei. Krisen spielten eine große Rolle, die Jungen fühlten sich häufig gestresst und überfordert. Das hat Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Ein Fünftel bis ein Drittel der Studierenden haben mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen, zeigen Studien. Die entwickeln sich meist im frühen Erwachsenenalter, erklärt Oberärztin Claudia Leucht, die in München eine psychiatrische Station für junge Erwachsene mit psychischen Erkrankungen leitet. 

Die Adoleszenz war schon immer eine schwierige Phase

Leucht beobachtet, dass viele ihre Klienten die Frage nach der eigenen Zukunft und Berufsperspektiven umtreibt. Das Thema werde in fast jedem Gespräch behandelt. „Für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist es wichtig, weiterhin Perspektiven und Ziele zu haben“, erklärt sie. „Weil wir daraus auch eine Therapiemotivation entwickeln können.“ Problematisch werde es, wenn die Lebensqualität eingeschränkt ist. „Wenn jemand etwa nur noch grübelt und Gedankenkreisen hat“, sagt Leucht. Es müsse sich nicht gleich um eine psychische Erkrankung handeln, trotzdem sollte man sich lieber früher als später Hilfe suchen. 

Leucht ist jedoch auch der Ansicht, dass Erwachsenwerden allgemein eine schwierige Phase sei. „Die Adoleszenz ist eben nicht nur das Alter, in dem alles wunderschön und alles gut ist“, erklärt sie. Das sei auch früher so gewesen. Wer nicht gerade in einem festen Gefüge wie dem Betrieb der Eltern eingebunden gewesen sei, zufrieden mit der Aussicht, diesen zu übernehmen, der habe in dieser Zeit schon immer Unsicherheit verspürt. „Das ist einfach eine Phase, in der man sich Gedanken macht, wo es hingehen soll“, sagt sie. Den Unterschied sieht auch die Ärztin heute darin, dass es „unendlich“ mehr Möglichkeiten und Wege gibt. Auch das weltpolitische Geschehen und die aktuellen Krisen spielen aus ihrer Sicht eine Rolle. Und was können Eltern tun? „Wohlwollende Toleranz“, sagt die Expertin. „Es ist wichtig, dass junge Leute ihren eigenen Weg finden. Und dass dafür manchmal Umwege sein dürfen. Dass nicht jeder einen ganz geraden Weg gehen muss.“ 

Als bei Felix die Entscheidung stand, fiel ihm eine Last von den Schultern

Inzwischen ist für Felix klar, wie es weitergeht. Luft- und Raumfahrtechnik ist es geworden. Dass das nun steht, ist für den jungen Mann befreiend. „Ich bin froh, dass ich das jetzt abhaken und mich auf das andere konzentrieren kann“, sagt er. Die Erleichterung habe man ihm danach direkt angemerkt, sagt seine Mutter. „Er saß am Tisch und begann, zu pfeifen. Als wäre ihm eine Last von den Schultern genommen worden.“

Ich persönlich bin nach dem zweiten Semester und dem Moment in der Küche noch das ein oder andere Mal in eine Sinnkrise gestolpert. Geholfen hat mir, nicht nur mit dem Kopf zu entscheiden. Sich irgendwann einfach festzulegen. Und zu merken, dass es anderen auch so geht. Benedikt arbeitet inzwischen, sein Traumjob ist es nicht, aber er kann etwas entspannter auf das Thema blicken. Er habe verstanden, dass in seiner Welt die Entscheidung keine so riesige Rolle spielt. „Ich kann kein Flugzeugingenieur werden, aber ich kann mit meinem Studium noch einige andere Dinge machen“, sagt der 28-Jährige.

Fragt man ihn, was man seinem jüngeren Ich raten würde, hat er eine Antwort parat. „Junge, mach mal ‘n paar Praktika“, sagt er und grinst. „Schreib auf, was dir wirklich wichtig ist.“ Dann wird er ernst. „Dann wäre ich wahrscheinlich zu anderen Schlüssen gekommen. Man muss sich nun mal selbst kennen. Und nicht danach handeln, wie ich gerne wahrgenommen werden würde. Aber ich kannte mich mit 18 nun mal noch nicht.“  

Berufsberater Kästner rät, den Dingen die Dramatik zu nehmen

Berufsberater Kästner rät, den Dingen die Dramatik zu nehmen. Viele hätten Angst, falsche Entscheidungen zu treffen und würden sich lähmen lassen. Einen solchen Fall kennt er aus seiner Berufspraxis auch. Das kann Kästner nicht nachvollziehen. „Selbst wenn du eine falsche Entscheidung triffst, ist das kein Problem, du kannst alles korrigieren“, sagt er. Kästner habe von Unternehmen immer wieder erfahren, dass es für sie kein Problem sei, wenn ein Jugendlicher eine Ausbildung oder ein Studium abgebrochen hat. Und er erlebt immer wieder, dass es besser ist, ein Studium abzubrechen, als einfach abzuwarten. Aber man müsse einen Schritt gehen. „Ich kann nur beurteilen, ob etwas richtig oder falsch ist, wenn ich es tue. Wenn ich es nur im Kopf durchspiele, merke ich das nicht.“

Es klingt ein wenig wie der Spruch in meiner Abirede. Am Ende war ich damals doch auf der richtigen Spur. Dass man nur sieht, wo ein Weg hinführt, wenn man ihn auch wirklich betritt, musste ich erst lernen. Mich an Kreuzungen zu entscheiden, fällt mir bis heute schwer und ich bin froh, dass ich inzwischen schon ein paar Pfade beschritten habe. Denke ich an die Zeit zurück, werde ich trotzdem fast ein bisschen wehmütig. Weil alles noch vor mir lag. Weil ich von all diesen Versionen von mir träumen konnte, die ich hätte werden können. Und weil ich damals, bei meiner Abirede, so gerne gewusst hätte, wo ich einmal lande. Es ist manchmal beängstigend, jung zu sein. Und einfach grandios.