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Der qualvolle Kampf gegen anonyme Verfolgung

Der qualvolle Kampf gegen anonyme Verfolgung

Die Schweiz kennt im Unterschied zu vielen Ländern keine Stalking-Strafnorm. Dabei gehen Stalker besonders perfide vor: Sie dringen in das Leben ihrer Opfer ein und bemächtigen sich ihrer Gefühlswelt.

Illustration Simon Tanner / NZZ

«Was habe ich diesem Menschen bloss angetan, dass er mich so kaputtmachen will?» Es ist diese Frage, um die sich im Leben von Florence Christen* alles dreht, wenn sie nicht gerade gegen Angst und Ohnmacht ankämpft. In langen, wachen Nächten sucht sie ihre Vergangenheit nach Ursachen ab für das, was ihr seit Monaten angetan wird. Sie zweifelt und verzweifelt an sich, und sie spürt, wie sie ihren Halt verliert. Nachts sitzt sie weinend auf dem Balkon und sehnt sich Erbarmen herbei, einen kleinen Hinweis oder wenigstens ein bisschen Schlaf. Doch es gibt keine Ruhe für Florence. Sie kann das Rätsel nicht lösen – vielleicht wird sie es nie können.

Denn sie weiss nicht, wer «dieser Mensch» ist, der immer tiefer in ihr Leben eindringt und die Macht über ihre Gefühle übernommen hat.

Im Frühling 2024, viele Monate nach jenen schlaflosen Novembernächten, macht es sich Florence Christen auf einem Bürostuhl bequem. Sie ist keine dreissig, sympathisch, selbstbewusst, sportlich und strahlt jene frische Offenheit aus, die signalisiert: Auch wenn der Alltag Probleme bereithält – lass dir das Schöne im Leben nicht nehmen.

In den nächsten zwei Stunden aber, während sie erzählt, wie sie gestalkt wurde, wird ihre Stimme immer wieder brechen, und es werden neue Tränen fliessen. Denn Florence kaut noch immer an der Geschichte, die vor anderthalb Jahren mit einer harmlosen Whatsapp-Nachricht begonnen hat und in jener ausweglosen Nacht auf ihrem Balkon noch lange nicht zu Ende war.

«To stalk» kommt ursprünglich aus der Jägersprache und bedeutet in Deutsch so viel wie «sich heranpirschen», «sich anschleichen» oder auch «hetzen». In den USA wird der Begriff in den 1990er Jahren erstmals verwendet, um das obsessive und systematische Verfolgen, Belästigen und Bedrohen einer Person zu bezeichnen. Wenige Jahre später taucht «Stalking» auch in der Schweiz auf.

Im vordigitalen Zeitalter geht es vor allem um Prominente, die von Fans verfolgt werden. Büne Huber, Frontmann der Berner Band Patent Ochsner, gehörte in jener Zeit in der Schweiz zu den ersten Stalking-Opfern, über die ausführlich geschrieben wurde. Von einem weiblichen Fan erhielt er Liebesschwüre, erotische Botschaften und Geschenke.

Bei Florence aber beginnt alles ganz harmlos. Es ist Februar, und sie erhält eine Whatsapp-Nachricht mit dem freundlichen Dank eines Hilfswerkes für ihre Anmeldung. Sie schenkt dem keine grosse Beachtung. Angemeldet hat sie sich zwar nicht. Wahrscheinlich ein digitaler Irrläufer, denkt sie sich und löscht die Nachricht wieder.

An manchen Tagen wird sie regelrecht zugespamt

Auch eine ganze Serie von merkwürdigen E-Mails, Nachrichten, Newslettern und Telefonanrufen, die sie in den darauffolgenden Tagen erhält, ist bald wieder vergessen. Ein Versicherungsbroker meldet sich, ein Anbieter dubioser Schlankheitskuren, die Heilsarmee. Überall soll sich Florence um Offerten und Informationen bemüht haben. An manchen Tagen wird sie regelrecht zugespamt. Lästig, aber so weit harmlos.

Das Unbehagen setzt subtil und unterschwellig ein, zunächst ohne dass es Florence richtig bemerkt. Als ihr Freund Rico* eines Abends beim Fussballtraining ist und sie allein in der gemeinsamen Wohnung bleibt, klingelt es unten an der Haustür. Florence erwartet niemanden, und vom Fenster im zweiten Stock aus kann sie nicht sehen, wer vor dem Haus steht.

Eine Verbindung zu den merkwürdigen Nachrichten und Anrufen der letzten Wochen zieht Florence in diesem Augenblick zwar nicht. Doch obwohl es unter anderen Umständen das Normalste der Welt wäre, dem unerwarteten Gast die Türe zu öffnen, tut sie es nicht. Etwas hält sie zurück.

Und tatsächlich geschehen immer merkwürdigere Dinge: Als sie Mitte Mai von der Arbeit nach Hause kommt, findet sie vor der Wohnungstür ein grosses Paket eines deutschen Versandhändlers. Darin Bauchweghosen und ein Multipack ausgesucht hässlicher Unterwäsche für Damen in Übergrösse im Wert von mehreren hundert Franken – auf ihre Rechnung. Weil die Adresse auf dem Paket bis auf den letzten Buchstaben stimmt, ist eine Verwechslung fast ausgeschlossen.

Florence selber hat nichts bestellt, deshalb weiss sie jetzt: Jemand will sie mit den merkwürdigen Zusendungen schädigen, sie heruntermachen und ihr Angst einjagen. In den folgenden Wochen erhält Florence immer mehr unerwünschte Einzahlungsscheine, E-Mails und Bestätigungen für Mitgliedschaften, die sie nie getätigt hat. Manchmal kommen Dutzende Botschaften pro Woche, dann ist wieder für einige Zeit Ruhe. Doch es hört nie auf.

Sie wird bei den Zeugen Jehovas angemeldet. Sie merkt, dass sich jemand an ihrem Briefkasten zu schaffen macht. Sie erhält Pakete und adressierte Prospekte für Treppenlifte, Sprachkurse oder Produkte «für die moderne Hausfrau». Es wird eine neue Ladung Oma-Schlüpfer geliefert. Sie wird wieder und wieder mit Anrufen und Nachrichten eingedeckt. Und es klingelt an der Haustüre, wenn Rico die Wohnung verlässt.

«Wie ein Gespenst in meinem Leben»

So harmlos jeder einzelne Übergriff für sich genommen erscheint: In ihrer Gesamtheit entwickelt sich der anonyme Ansturm zur Bedrohung. Florence ist ihm wehrlos ausgeliefert, ja sie weiss noch nicht einmal, auf wen sie wütend sein soll. Sie fühlt sich beobachtet und ihrer Privatsphäre beraubt. Stück für Stück bricht Florence’ Sicherheitsgefühl zusammen. «Es war», schildert sie später, «wie wenn ein unsichtbares Gespenst in mein Leben gedrungen wäre.» Nach drei Monaten geht sie zur Polizei.

«Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer einer anderen Person in einer Weise unbefugt nachstellt, die geeignet ist, deren Lebensgestaltung nicht unerheblich zu beeinträchtigen»: So steht es in Paragraf 238 des deutschen Strafgesetzbuches. Doch in der Schweiz existiert keine solche Bestimmung. Zurzeit berät das Parlament über ein ähnliches Gesetz, aber es ist umstritten. Stalking kann in der Schweiz heute deshalb alles bedeuten: Drohung, Nötigung, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung.

Oder – wie im Fall von Florence: nichts.

So jedenfalls erklären es die Polizisten Florence schulterzuckend: Denn schliesslich sei nicht sie es, die geschädigt werde, sondern die Versandhändler, die die unbestellte Ware lieferten. Viel könne man deshalb nicht machen. Die Polizei habe zudem Besseres zu tun, als sich um Kleinigkeiten wie Fake-Anmeldungen zu kümmern. Lapidar wird ihr zu mehr Vorsicht beim Umgang mit den persönlichen Daten geraten, so erzählt es Florence. Das Opfer wird für die Tat kurzerhand selbst verantwortlich gemacht.

Fassungslos steht Florence nach einer Viertelstunde wieder auf der Strasse. Jetzt drehen sich ihre Gedanken nicht mehr nur um den unheimlichen Unbekannten, sondern sie beginnt auch an sich selbst zu zweifeln: Ist sie tatsächlich dabei, wegen ein paar Paketen und Prospekten ein Drama zu veranstalten? Verliert sie langsam den Verstand? Sie schämt sich.

Doch die unheimlichen Botschaften hören nicht auf, die Sendungen treffen weiterhin in bedrohlichem Stakkato ein. Es gibt im Leben von Florence inzwischen kaum eine Minute mehr, in der sie sich entspannen kann. Bei jedem Handy-Signalton, bei jedem Klingeln zuckt sie innerlich zusammen. Sie wagt sich nicht mehr auf die Strasse, weil sie fürchtet, sich ihrem Stalker schutzlos auszuliefern. Sie wechselt den Arbeitsweg von Tag zu Tag. Sie hat Angst, auf Tinder zu landen oder bei der Rückkehr am Abend wieder ein Paket vorzufinden.

Florence schliesst sich nun zu Hause ein, wenn ihr Freund zum Fussballtraining geht. So wird ihre Welt kleiner und kleiner. Bald gibt es im Leben von Florence und Rico kaum ein anderes Thema mehr als das fiese Treiben «dieses Menschen», wie es die beiden formulieren. Oft müssen sie am Abend zudem Firmen und Hilfswerke kontaktieren, um Zusendungen und Anmeldungen rückgängig zu machen. «‹Dieser Mensch› wird mit seiner Aktion keinen Frieden finden», tröstet sich Florence. Aber sie weiss, dass er ihr den Frieden längst genommen hat.

So fasst das Paar einen Plan.

Stalking – das ist eine Kriminalitätsform, bei der die Opfer häufig allein bleiben. Für Aussenstehende ist oft kaum nachvollziehbar, wie bedrohlich Stalking ist und wie stark es die psychische Gesundheit schädigen kann. Es ist nicht einmal bekannt, wie oft in der Schweiz gestalkt wird. Weil es hierzulande keinen Stalking-Straftatbestand gibt, taucht das Phänomen in der polizeilichen Kriminalstatistik nicht auf. Einzig die Stadt Bern führt eine Statistik. Pro Jahr werden dort jeweils zwischen 100 und 150 Fälle gemeldet, also etwa zwei bis drei pro Woche.

In Deutschland, wo eine eigene Strafbestimmung existiert, wurden 2023 rund 23 000 Stalking-Fälle polizeilich erfasst. Rechnet man diese Zahl auf die Bevölkerungsgrösse der Schweiz um, ergibt dies über 27o0 Fälle pro Jahr. Gemäss einer deutschen Studie wird knapp jede neunte Person mindestens einmal gestalkt. Die Dunkelziffer ist dabei hoch.

Bald schläft Florence nicht mehr

Auch im Falle von Florence ahnt niemand, was los ist. In aller Heimlichkeit bereiten Florence und Rico ihre Flucht vor: Sie suchen sich eine neue Wohnung – und erzählen nur dem allerengsten Umfeld davon. Selbst Freundinnen und Freunde erfahren die neue Adresse nicht. Es gibt keinen Nachsendeauftrag, kein Türschild, keine Umzugsankündigung und schon gar keine House-Warming-Party. Alles wird so geplant, dass Florence und Rico am Zügeltag im Hintergrund bleiben. Niemand soll wissen, was vor sich geht.

Doch schon nach wenigen Tagen am neuen Ort meldet sich erneut eine Firma wegen einer angeblichen Offerte. Und: Die Firma kennt die neue Adresse, die sonst niemand weiss. Schlagartig wird Florence bewusst, dass der Auszug vergeblich war. Enttarnt! «Dieser Mensch» scheint alles über sie zu wissen und sie fest unter seiner Kontrolle zu haben. Sie hat Angst, denn nun weiss sie, dass sie sich nicht schützen kann.

So geht der Horror unvermindert weiter, tagelang, wochenlang. Anonyme Post, Pakete, E-Mails, Anrufe, Türklingeln. Bald schläft Florence nicht mehr, klagt über Migräne und Verdauungsstörungen, benötigt psychologische Unterstützung und muss schliesslich krankgeschrieben werden. Aber nicht einmal ihren Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz wagt sie den Grund dafür zu erklären. Denn jeder und jede könnte Täter oder Täterin sein.

Genau so umschreiben Opferberatungsstellen die Folgen von Stalking: Betroffene erlebten einen drastischen Rückgang an Lebensqualität, kämpften mit Angst, Schlafstörungen, Kopf- und Magenschmerzen. Es kommt zu Depressionen oder sogar zu Verfolgungswahn.

Die allem Anschein nach ständige Überwachung führt dazu, dass selbst das eigene Zuhause nicht mehr als sicher empfunden wird. Die Opfer ziehen sich zurück, was zu sozialer Isolation führt. Die ständige Belastung mindert die Leistungsfähigkeit. Viele geben Freizeitaktivitäten auf, weil sie fürchten, dort auf ihre Verfolger zu treffen.

Auch Florence beginnt, ihrem persönlichen Umfeld zu misstrauen, und verdächtigt im Tram und auf der Strasse bald jeden, der sie länger als eine Sekunde ansieht. Sie zermartert sich nächtelang ihr Hirn darüber, wer «dieser Mensch» sein könnte, weshalb es so weit kommen musste und was ihr in Zukunft noch alles droht. In manchen fiebrigen Nächten drehen sich ihre Gedanken so rasant, dass sie vor Erschöpfung, Angst und Sehnsucht nach ihrem alten Leben nur noch weint.

Durch Zufall erfährt Florence schliesslich, dass es an ihrem Wohnort eine Stalking-Fachstelle gibt. Und endlich beginnt sich der Nebel zu lichten. Mit 90-prozentiger Sicherheit werde Florence von einer Frau gestalkt, so die Analyse der Beraterin. Zwar sind die Täter laut Schätzungen in rund 80 Prozent der Fälle männlich und die Opfer weiblich, doch es gibt auch andere Konstellationen.

Männer stalken dabei aggressiv und traktieren ihre Opfer oft beinahe im Sekundentakt mit Nachrichten, Drohungen und Beschimpfungen. Frauen stalken versteckter, aus dem Hinterhalt, über einen längeren Zeitraum – und mit strategischer Perfidie. So wie im Fall von Florence.

Von der Polizei wird sie wieder und wieder vertröstet

Rasch haben Florence und Rico eine Vermutung: Eine kurze Liebe im Leben von Rico endete lange vor der Zeit mit Florence in Scherben. Rico weiss, wie schwer sich die Frau damals mit seiner Zurückweisung tat. Und nun fällt ihm auch auf, wie oft er und Florence der Frau in den letzten Monaten begegnet sind: im Bus, auf der Strasse oder beim Einkauf. Stets war sie scheinbar zufällig da. Sie zog sogar in eine Wohnung im Haus vis-à-vis von Ricos und Florence’ alter Wohnung.

Florence ist zuerst froh, dass sie nun einen Anhaltspunkt hat. Und gleichzeitig zweifelt sie: Ist es wirklich vorstellbar, dass sich eine Frau aus enttäuschter Liebe an Ricos neuer Freundin rächt? Nie hatte Florence mit dieser Frau Kontakt, und schon gar nicht hat sie ihr etwas angetan. Florence geht zum zweiten Mal zur Polizei, diesmal mit Unterstützung der Beraterin von der Stalking-Stelle. Sie erstattet Anzeige gegen Unbekannt und meldet ihren Verdacht.

Doch sie fühlt sich nicht besser – oft ist sogar das Gegenteil der Fall. Gegenüber Rico hatte die Frau schliesslich versichert, mit der Sache nichts zu tun zu haben. Florence macht sich Vorwürfe, eine Unbeteiligte in die Sache hineinzuziehen. Zu den Albträumen kommen Gewissensbisse und neue Selbstzweifel hinzu – während das unheimliche Gespenst weiterhin aktiv in ihrem Leben wütet.

Als das Jahr zu Ende geht, hat sie nur einen einzigen naiven Wunsch: Dass sich «dieser Mensch» einen guten Neujahrsvorsatz fasst und mit der ganzen Sache aufhört. Sie geht erneut zur Polizei, erkundigt sich telefonisch nach Neuigkeiten und wird immer wieder vertröstet – bis sie einen Anwalt einschaltet.

Doch es wird noch Monate dauern, bis die Polizei der mutmasslichen Täterin unter Zuhilfenahme von IP-Adressen endlich auf die Schliche kommt. Die Staatsanwaltschaft leitet ein Verfahren ein – gegen jene Frau, die das Ende der kurzen Episode mit Rico nicht verkraften konnte. Erst als ihr die Polizei klarmacht, dass sie die Stalking-Vorwürfe beweisen kann, gesteht die Frau alles. «Es war eine Frustaktion», erklärt sie in der Vernehmung. «Ich habe einen Scheiss gemacht.»

Langsam nur findet Florence zu ihrer inneren Ruhe, zu ihrem Schlaf und zur Lebensfreude zurück. Kaputtmachen lassen hat sie sich nicht, aber sie ist erschöpft. Auch heute schleicht sich die Angst immer wieder ein: Was, wenn es wieder anfängt? «Es klingt irgendwie alles so harmlos», sagt sie beinahe entschuldigend, nachdem sie die ganze Geschichte ausführlich erzählt hat: «Aber wer es nicht selbst erlebt hat, kann nicht wissen, wie schlimm es ist.»

Bis in der Schweiz eine Stalking-Strafnorm in Kraft ist, die eine bessere Strafverfolgung in Fällen wie jenem von Florence möglich macht, wird voraussichtlich noch mindestens ein Jahr vergehen. Und mehr als anderthalb Jahre nachdem für Florence alles begonnen hat, ist ihre Sache auch vor Gericht noch nicht abgeschlossen.

* Namen und biografische Daten sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert.