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Kamala Harris’ Weg von San Francisco zur Macht

Kamala Harris’ Weg von San Francisco zur Macht

Die Königin von San Francisco: Auf Kamala Harris' Spuren, der vielleicht bald mächtigsten Frau der Welt

Für ihre republikanischen Gegner ist der Name der Stadt ein Fluchwort. Für Kamala Harris war San Francisco prägend: Wie sehr hat sie die Stadt geprägt. Und wie sehr prägte sie die Stadt?

Gibt es einen schöneren Ort in Amerika?

Die Frage stellt sich ganz oben an der Hyde Street mit Blick auf die Bucht, auf Alcatraz und Angel Island, die im Licht der untergehenden Sonne leuchten; auf all die anderen Hügel dieser Stadt, mit ihren Stufen und Treppen – so viele Hügel, über die plötzlich der Nebel rollt und sich auf die bunten, viktorianischen Häuser legt, um dann ebenso plötzlich wieder abzuziehen.

San Francisco, das sind sieben auf sieben Meilen Stadt auf einer zerklüfteten Halbinsel, gebaut an einer der dramatischsten Meerengen der Welt. Ein Journalist namens Herb Caen, der Chronist der Stadt, schrieb einmal, wenn er eines Tages sterbe und in den Himmel komme, werde er sich umsehen und sagen: «Nicht schlecht, aber es ist nicht San Francisco.»

Stadt des Nebels, Stadt der Gegensätze.

Stadt des Nebels, Stadt der Gegensätze.

San Francisco: Wo Harris wurde, was sie ist.

San Francisco: Wo Harris wurde, was sie ist.

Hier begann die Karriere von Kamala Harris, der bald vielleicht mächtigsten Frau der Welt. Sie ist auf der anderen Seite der Bucht aufgewachsen, in Berkeley, hier machte sie ihre ersten Schritte als Politikerin. «Wenn Sie wissen wollen, wie Amerika unter einer Präsidentin Kamala Harris aussehen würde, besuchen Sie ihre Heimatstadt San Francisco», schrieb ein republikanischer Abgeordneter auf der Plattform X. Und er meinte es als Hohn.

Aber hat er recht?

Wie sehr hat Harris diese Stadt geprägt, und wie sehr prägte die Stadt sie?

Es wäre leicht, sich von der Schönheit San Franciscos täuschen zu lassen und vom Mythos, der diese Stadt umweht, seit die Goldgräber in den Westen strömten, ans Ende des Kontinents, wo Amerika aufhört und der Ozean beginnt.

Auf die Goldgräber folgten die Beatniks, die Hippies, die Schwulen, die Techies. Sie alle machten San Francisco auf ihre Weise zu einem Ort der Freiheit und des Fortschritts. So zumindest erzählen es sich die Leute hier gerne, und sie pflegen damit das Bild von der Stadt als Labor der Zukunft, und so denken das auch viele Menschen, die nie in San Francisco waren, aber mit Sehnsucht daran denken.

Es wäre auch leicht, sich von der Atmosphäre täuschen zu lassen, die San Francisco ausstrahlt, von seinen Vibes. An den Strassenlampen hängen Plakate, die die Einwohnerinnen und Einwohner zu Liebe und Mitgefühl aufrufen, oft sind sie regenbogenfarben.

Wer nicht in der Tech-Branche arbeitet, hat mit einiger Wahrscheinlichkeit einen Job in einer der zahlreichen gemeinnützigen Organisationen. Im Bus, in den Geschäften und selbst auf der Strasse tragen viele Menschen Masken (die teuren), als wäre die Pandemie nie zu Ende gegangen.

Progressiv, rücksichtsvoll, eine alternative Wohlfühlzone: Doch dieser Eindruck täuscht. San Francisco ist ein hartes Pflaster, war es schon immer, besonders in politischer Hinsicht.

Hier hat Kamala Harris ihren Weg in die Politik eingeschlagen, hier hat sie 2003 ihren ersten Wahlkampf gegen einen Mann gewonnen, der den Spitznamen «K. o.» trug, weil er in jungen Jahren als Boxer seine Gegner übel zugerichtet hatte.

Debbie Mesloh, eine alte Freundin von Harris, die lange Zeit als Kommunikationsberaterin für sie gearbeitet hat, sagt: «Politik in dieser Stadt fühlt sich an wie ein Messerkampf in einer Telefonzelle.»

Ein anderer Politikberater aus San Francisco verglich die heutige Präsidentschaftskandidatin einmal mit einem Protagonisten aus dem Film «The Shawshank Redemption», der durch ein Abwasserrohr aus dem Gefängnis flüchtet: eine Figur, «die durch einen Fluss voller Scheisse kroch und auf der anderen Seite sauber wieder herauskam».

Kamala Harris hat es geschafft. Sie ist aus San Francisco herausgekommen und die erste Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten geworden. Jetzt will sie weiter. Wie viel des linken, progressiven, woken San Francisco steckt in ihren Knochen?

Für die konservative Hälfte des Landes ist San Francisco eine urbane Hölle, ein Feindbild, ein Symbol dafür, was geschieht, wenn die Demokraten ungehindert regieren.

Einer von Donald Trumps Wahlkampfspots trägt den Titel: «Meet San Francisco Liberal Kamala Harris», lernt die Linke Kamala Harris aus San Francisco kennen. Das Video ist mit düsterer Musik unterlegt und zeigt Harris, die sich unter schallendem Gelächter für offene Grenzen, Milliardenausgaben und – womöglich der schlimmste Vorwurf – für ein Verbot von Plastikstrohhalmen ausspricht.

Kamala Harris ist radikal: Das ist die Botschaft der Republikaner, die sie ständig wiederholen, und sie belegen sie mit der Herkunft der Demokratin. Jemanden einen «San Francisco Liberal» zu nennen, das ist für viele Republikaner so, als würde man jemanden als Kommunisten der schlimmsten Sorte beschimpfen.

Es gibt in diesen Kreisen auch einen Übernamen für die Stadt, der wenig schmeichelhaft ist: «San Fransicko», das kranke San Francisco, so heisst auch ein Buch des Autors Michael Shellenberger. Er argumentiert, dass linke Politik, wie sie in San Francisco gemacht werde, Probleme wie Obdachlosigkeit, Drogenmissbrauch und Kriminalität nur verschlimmere, statt sie zu lösen.

Quartier der Zombies

An manchen Ecken sieht die Stadt tatsächlich so aus, wie die Konservativen sie darstellen. Dreckig, heruntergekommen, verwahrlost. An der Turk Street sitzen an diesem Vormittag zwei Gestalten regungslos und vornübergebeugt auf dem Trottoir, ihre Köpfe berühren fast die Füsse. Neben ihnen liegen gebrauchte Spritzen und Taschentücher voller eingetrocknetem Blut.

Keiner der Passanten, die an ihnen vorbeigehen, beachtet sie. Ein paar Schritte weiter hängt ein Mann bäuchlings über einer Baustellenabsperrung, auch er regungslos. Lebt er noch, ist er schon tot?

Keiner fragt nach.

Man könnte in San Francisco eine Folge einer Zombie-Serie drehen, ungeschnitten, sagte Elon Musk einmal (auch er ist kein Freund der Stadt), und es stimmt schon: Was sich im Viertel Tenderloin abspielt, ist schwer zu ertragen. Drogensüchtige, Obdachlose, Menschen mit unbehandelten psychischen Störungen, Unrat und Kriminalität. Nicht irgendwo am Rand, wo es keiner mitbekommt, sondern mitten im Zentrum. Man braucht vom Tenderloin-Viertel keine fünf Minuten zu Fuss, bis man ein Restaurant findet, das ein Rib-Eye-Steak für 62 Dollar verkauft.

Die Strassen von San Francisco sind hart und kalt.

Die Strassen von San Francisco sind hart und kalt.

Kamala Harris hat einst in Tenderloin studiert. Sie kehrte dafür aus Washington zurück, wo sie an der Howard University einen Abschluss in Politikwissenschaft und Wirtschaft gemacht hatte. In San Francisco, an der UC Hastings (die heute UC Law heisst), bildete sie sich zur Juristin aus. Das war Ende der 1980er Jahre, als das Elend noch lange nicht so gross war wie heute. Aber Obdachlosigkeit und Armut herrschten schon damals, und sie müssen bei Harris Spuren hinterlassen haben.

Randy Shaw, 68 Jahre alt, arbeitet seit bald vier Jahrzehnten im Quartier. Er sitzt jetzt schräg gegenüber von Harris’ ehemaliger Uni in seinem Büro in der Tenderloin Housing Clinic, einer von ihm gegründeten Organisation, die Wohnungen für Obdachlose unterhält. Shaw ist Anwalt, und er ist wie Kamala Harris in Berkeley aufgewachsen.

Er kann lange und begeistert über die Geschichte des Tenderloin reden, das mit seinen schummrigen Bars schon immer Menschen anzog, die high werden, Sex haben oder auf nicht sehr legale Weise Geld machen wollten.

Shaw kümmert sich mit seiner Organisation darum, dass die Obdachlosen einfache Einzelzimmer in ehemaligen Hotels erhalten, weil sie in der Stadt keine bezahlbaren Wohnungen finden.

«Früher waren die meisten von ihnen Menschen, die arbeiten wollten und arbeiten konnten», sagt er. «Heute ist das nicht mehr so. Heute ist die grosse Mehrheit der Leute auf harten Drogen.»

Shaw macht dafür die lokale Regierung verantwortlich. «Die Stadt fördert den Drogentourismus. Sie lässt es zu, dass in manchen Gegenden offen mit Drogen gehandelt wird. Sie sendet die Botschaft: Kommt her, um zu dealen und zu konsumieren. Niemand bietet Drogenabhängigen so viele Dienstleistungen an wie San Francisco. Sie erhalten kostenloses Essen, medizinische Versorgung, Beratung. Es ist verrückt, absolut verrückt.»

Die Zahlen geben Shaw recht. Allein vergangenes Jahr starben 806 Menschen in San Francisco an einer tödlichen Überdosis, meistens an Fentanyl. Viele dieser Menschen hielten sich laut einer Recherche des «San Francisco Chronicle» in Unterkünften auf, die von der Stadt bereitgestellt werden – und in denen Drogenkonsum toleriert wird. Sterben und sterben lassen.

Lunch mit dem Strippenzieher

Viele Geschäfte haben das Tenderloin-Quartier wegen dieser Zustände verlassen. Darunter sind auch grosse Konzerne wie Whole Foods und Walgreens, die ihre Filialen geschlossen haben, nachdem dort ständig gestohlen und eingebrochen worden war. Die Stadt tut nicht viel dagegen, aus Unfähigkeit oder aus einer ideologischen Hemmung, Recht und Ordnung durchzusetzen. Im Frühling hat eine Gruppe von Einwohnerinnen und Einwohnern die Stadt San Francisco verklagt, weil sie die offene Drogenszene in Tenderloin einfach ignoriert.

Diese Untätigkeit ist erstaunlich – und sie kontrastiert mit der Selbstwahrnehmung der Politikerinnen und Politiker, die die Stadt in jüngster Zeit hervorgebracht hat. Politiker mit Macht und Einfluss, weit über San Francisco hinaus.

Da ist zum Beispiel Nancy Pelosi. Sie war als frühere Sprecherin des Repräsentantenhauses die bisher mächtigste Frau in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Sie spielte auch eine nicht unwesentliche Rolle dabei, Joe Biden nach seinem desaströsen TV-Duell gegen Trump zum Rückzug zu bewegen.

Da ist Dianne Feinstein, die den Bundesstaat Kalifornien bis ins Greisenalter im US-Senat vertrat, wo sie die Sicherheitspolitik des Landes mitbestimmte.

Und da ist Gavin Newsom, der stets tadellos pomadierte Gouverneur von Kalifornien, der immer wieder selbst als Präsidentschaftskandidat gehandelt wird.

Es ist kein Zufall, dass alle diese Politiker Demokraten sind oder waren. Die Demokratische Partei regiert in San Francisco ununterbrochen seit 1964. Sie tut das selten harmonisch, denn Demokrat ist in San Francisco nicht gleich Demokrat: Es gibt die Moderaten und die Progressiven, sie bekriegen sich oft, es wird dann persönlich und giftig, und meistens gewinnen die Moderaten. Die Republikaner hingegen haben auf die Politik der Stadt so viel Einfluss wie ein Schmetterling auf den Wind.

Der Name des Mannes, der in diesem besonderen Biotop lange das Klima bestimmte, fällt in San Francisco unweigerlich in jedem Gespräch über Politik: Willie Brown.

Brown flüchtete einst als mittelloser schwarzer Mann aus dem rassengetrennten Texas an die Westküste. Von San Francisco aus arbeitete und kämpfte er sich zur bestimmenden Figur in der Politik von Kalifornien hoch. Er genoss seine Macht so sehr, dass er sich selbst den «Ayatollah» des kalifornischen Parlaments nannte, das er von 1980 bis 1995 präsidierte.

Später wurde er Bürgermeister von San Francisco. Es gibt in der Stadt wohl keinen nennenswerten Politiker, der nicht auf irgendeine Weise von Brown gefördert wurde.

Brown unterstützte auch Kamala Harris – auf eine Weise, die sie bis heute verfolgt. Die beiden wurden ein Paar, als Harris noch Staatsanwältin in der Nachbarstadt Oakland war. Sie war 29 Jahre alt, er war 60.

Die Öffentlichkeit erfuhr von dieser Beziehung über den Journalisten Herb Caen, dessen tägliche Kolumne während fast sechs Jahrzehnten im «San Francisco Chronicle» erschien und die von der ganzen Stadt gelesen wurde. Es gebe da «jemand Neues in Willies Liebesleben», schrieb Caen im März 1994. «Sie ist eine Frau, kein Mädchen. Und sie ist schwarz . . .»

Die Auslassungspunkte des Journalisten, der vorzugsweise in einem weissen Jaguar durch die Stadt fuhr und seine Kolumnen auf einer Royal-Schreibmaschine tippte: schwierig. Das Alters- und Machtgefälle zwischen Harris und Brown: ebenso.

Die Beziehung hielt keine zwei Jahre, dann trennten sich die beiden offenbar einvernehmlich. Kurz darauf verschaffte Brown, inzwischen zum Bürgermeister gewählt, Harris zwei einträgliche Posten in politischen Aufsichtsgremien – eine Form der Günstlingswirtschaft, die Harris lange vorgehalten wurde.

Um richtig zu verstehen, wie Kamala Harris in die Politik geraten ist, wie sie es bis zur Vizepräsidentin geschafft hat und womöglich zur ersten Präsidentin der USA, muss man sich zum Lunch mit Mark Buell treffen, einem ihrer frühesten Mentoren.

Buell, 82 Jahre alt, sitzt in Hemd und Jackett und mit dem Teint eines Golfers bei «Sam’s Grill», dem fünftältesten Restaurant der USA, ununterbrochen in Betrieb seit 1867. Buell weiss das, weil er das Restaurant vor einigen Jahren selbst gekauft hat. Es war eine spontane Entscheidung, er kann sich so etwas leisten.

Buell hat als Immobilienunternehmer ein Vermögen gemacht. Seit 1996 ist er mit Susie Tompkins verheiratet, der schwerreichen Gründerin der Modelabels Esprit und North Face.

Die Strippenzieher: Willie Brown, links, und Mark Buell.

Die Strippenzieher: Willie Brown, links, und Mark Buell.

Yes, she can¨!

Yes, she can¨!

Harris’ Startschuss

Die Buells sind das, was man in den USA megadonors nennt: Menschen, die sehr viel Geld für Politiker spenden, in diesem Fall für Politiker der Demokratischen Partei.

Bill und Hillary Clinton sind alte Vertraute der Buells. «Bill war schon mindestens fünfmal hier, genau an diesem Tisch», sagt Mark Buell und scrollt auf seinem Handy zu einem Foto, das den früheren US-Präsidenten im Hawaiihemd zeigt, vor dem dunkelbraunen Täfer des Restaurants. Auch Kamala Harris und ihr Ehemann Doug Emhoff haben hier schon mit den Buells gespeist.

Bevor Buell über seine entscheidende Rolle beim Aufstieg von Harris erzählen kann, erhält man bei «Sam’s Grill» eine Ahnung davon, wie eng verflochten die alte Elite von San Francisco ist. An den Tisch tritt jetzt nämlich Paul Pelosi, der Ehemann von Nancy Pelosi, und stellt sich vor. Ein rechtsextremer Verschwörungstheoretiker hat ihn vor zwei Jahren in seinem Haus überfallen und mit einem Hammer mehrfach auf seinen Kopf eingeschlagen. Pelosi überlebte nur knapp.

Wie geht es Ihnen heute, Mister Pelosi? «Es geht okay, danke», sagt er und setzt sich an den Tisch nebenan.

Dort wartet schon Stanlee Gatti, der in San Francisco bekannt ist für die ausschweifenden Partys, die er für die Reichen, Schönen und Mächtigen der Stadt schmeisst.

Dort wartet auch die Witwe von Herb Caen, dem Journalisten, von dessen Kolumnen sich das politische San Francisco ernährte. Dann betritt Willie Brown himself das Restaurant, der Strippenzieher, der «Ayatollah», 90 Jahre alt, blauer Anzug, rosa Hemd, und nimmt neben Pelosi, Gatti und der Witwe von Caen Platz, ein hoher Beamter der Stadtverwaltung ist auch noch da. Ein König und seine Tafelrunde.

Über Kamala Harris sprechen, seine Ex-Freundin? Das will Brown lieber nicht, bittet um Verständnis.

Dafür erzählt nun endlich Mark Buell, während er sich eine Stoffserviette in den Schoss legt und sich an seinen Crevettensalat macht. Er erinnert sich noch gut an seinen ersten Lunch mit Harris, es war im Jahr 2002.

Harris arbeitete damals als Juristin in der Stadtverwaltung von San Francisco, wo sie sich um die Belange von Familien und Kindern kümmerte. Sie hatte Buell um ein Treffen gebeten, weil sie für den Job als Bezirksstaatsanwältin von San Francisco kandidieren wollte, der in einer Wahl vergeben wird. «Ich sagte aus reiner Höflichkeit zu», sagt Buell.

Die Ausgangslage war delikat: Der Amtsinhaber – Terence Hallinan, der Boxer, der bekannt war für seine Härte im Ring – war umstritten, weil in seiner Staatsanwaltschaft ein Chaos herrschte. Doch Hallinan stammte aus einer alteingesessenen Familie der Stadt mit besten Verbindungen. Harris war dagegen eine Aussenseiterin, die Tochter von Einwanderern aus Indien und Jamaica, die sich in Berkeley in der Bürgerrechtsbewegung kennengelernt hatten. Sie hatte noch nie für ein Amt kandidiert.

Buell hatte also keine Erwartungen. «Aber je mehr sie darüber sprach, woher sie kam und was sie erreichen wollte, desto mehr dachte ich, dass sie es schaffen könnte. Sie war jung, intelligent, motiviert, und sie hatte diese eine Ingredienz, die jeder Politiker braucht: Sie brannte vor Leidenschaft. She had fire in the belly.»

Am Ende des Essens versprach Buell Harris nicht nur, dass er sie unterstützen werde. «Ich sagte ihr, dass ich auch die Verantwortung für die Finanzierung ihres Wahlkampfs übernehme.»

Das war eine Zusage, die es in sich hatte – und die zum Startschuss in Harris’ politischem Leben wurde. Weil in San Francisco – sogar noch mehr als anderswo in den USA – nur ernst genommen wird, wer als politischer Kandidat beweisen kann, dass er potente Spender hinter sich zu scharen vermag.

Buell öffnete Harris die Türen zur High Society der Stadt, zu den alten und neuen Reichen in ihren Häusern im Viertel Pacific Heights. Und er brachte Harris etwas bei, worin sie heute, im Wahlkampf um die Präsidentschaft, eine Meisterin ist: das Geldsammeln.

«Wir bezogen ein leeres Büro bei einem prominenten Anwalt», sagt er. «Ich gab ihr eine Visitenkarte und sagte ihr, wer die Person war, wie viele Kinder sie hatte, alle persönlichen Informationen. Dann wählte ich die Nummer, gab ihr den Hörer, und sie machte den Rest. Sie lernte schnell.»

Wie bittet man jemanden in der Politik um Geld?

«Man muss es zu einem Spiel machen», sagt Buell. «Man muss sich ein Ziel setzen, das man immer wieder übertreffen will, und man darf nichts persönlich nehmen.»

Harris habe sich an einen simplen Dreisatz gehalten. «Sie sagte diesen Leuten: Hier ist das Problem, so werde ich es lösen, und dafür brauche ich Ihre Hilfe. Und dann, wenn die Leute eine Zusage gaben, fragte sie sofort: Kann ich heute noch jemanden vorbeischicken, um den Check abzuholen?» Buell lehnt sich zurück und sagt: «Das ist der Trick, das ist das Geheimnis.»

Harris sammelte auf diese Weise mehr als eine Million Dollar. Und stellte ihre Konkurrenz damit in den Schatten.

San Francisco ist schon lange reich, wobei die Quellen des Wohlstands sich stets verändert haben. Einst war die Stadt das Finanzzentrum des amerikanischen Westens. Der drittgrösste Ölkonzern der Welt, Chevron, wurde hier gegründet, ebenso die Mode-Imperien von Levi Strauss und Gap. Die Entstehung des Silicon Valley machte San Francisco und die Bay Area zum globalen Hub für Technologie und Innovation. Geld war immer da, Geld prägt auch die Politik in dieser Stadt.

«San Francisco ist vieles, aber nicht links», sagt Chris Carlsson gleich nach der Begrüssung.

Carlsson ist Historiker und Chronist von San Francisco. Er gründete 1992 mit Freunden die Critical-Mass-Bewegung, bei der Velofahrer in Gruppen durch die Stadt fahren, um auf ihre Rechte aufmerksam zu machen – eine Bewegung, die weltweit Nachahmer gefunden hat, von Montevideo bis Zürich.

Er sitzt nun, umgeben von Büchern, im Arbeitszimmer seiner Wohnung im Mission District, die er sich nur leisten kann, weil das Haus einer Stiftung gehört. Er erzählt von alten Freunden, die ihre Wohnungen verlassen mussten, einigen drohte die Zwangsräumung. Es ist zunehmend schwierig geworden, mit einem normalen Einkommen in San Francisco zu überleben.

Die Mieten sind so hoch wie fast nirgendwo sonst in den USA, sie liegen im Schnitt bei 3800 Dollar für eine Dreizimmerwohnung, in keiner anderen Stadt leben so wenige Familien mit kleinen Kindern. «So kann nichts entstehen, keine Kultur, kein Freiraum», sagt Carlsson.

Kamala Harris spricht in ihrem aktuellen Wahlkampf viel über den Wohnungsbau, den sie als Präsidentin fördern wolle, über den Traum vom Eigenheim, den sich alle Amerikanerinnen und Amerikaner erfüllen können müssten – so wie das auch ihrer Mutter gelang. Aber warum tun die Demokraten in San Francisco nicht schon heute mehr dafür?

Chris Carlsson antwortet darauf mit dem Satz, den er heute schon einmal gesagt hat: «Diese Stadt ist nicht links.»

Es gebe in San Francisco vielleicht ein paar hundert Marxisten und Anarchisten, «aber die organisierte Linke ist tot». Keiner, der es in der Demokratischen Partei in eine Machtposition bringe, hinterfrage das Wirtschaftsmodell, das die gewaltigen Gegensätze in San Francisco erst möglich mache.

Carlsson beschreibt dieses Modell so: «Der Markt legt die Preise fest. Der Staat kümmert sich einzig darum, die Anhäufung von Kapital zu erleichtern, und hofft, dass ein bisschen davon nach unten tröpfelt. Das ist das Dogma.»

Nicht einmal die Geschichte San Franciscos als Zentrum der Gegenkultur und der Rechte von Minderheiten mache sie zu einer linken Stadt, findet Carlsson. «Die Idee, dass wir fortschrittlich seien, weil wir Schwule tolerieren, zeugt von einer ziemlich niedrigen Messlatte.»

Worthülsen und Banalitäten

Vielleicht erklärt all dies, warum Kamala Harris bei weitem nicht so links ist, wie es Trump und die Republikaner darstellen – nicht einmal nach amerikanischen Massstäben. Als sie 2003 ihren ersten Wahlkampf führte, positionierte sie sich rechts von ihrem Gegner Terence Hallinan – als Staatsanwältin, die durchgreift, Kriminelle verfolgt und für Recht und Ordnung sorgt. Sie glaubte, dass es dafür in San Francisco ein Publikum gibt.

Debbie Mesloh lernte Kamala Harris vor 25 Jahren an einem Abendessen kennen. Sie hat lange für sie als Kommunikationsberaterin gearbeitet, und sie erhält von ihr noch heute an jedem Geburtstag einen Glückwunschanruf. Aber als Mesloh an diesem Nachmittag das Café im Mission District betritt und sich umsieht, zuckt sie kurz zusammen. Das ist doch nicht . . .?

Neben dem Tresen steht Kamala Harris, der Blick ist streng, die Arme sind verschränkt. Die lebensgrosse Pappfigur sieht so echt aus, dass sie sogar Mesloh getäuscht hat.

In San Francisco lernte Harris, wie man Geld sammelt.

In San Francisco lernte Harris, wie man Geld sammelt.

Mesloh setzt sich mit einem Kaffee an einen Tisch, an dem schon Rebecca Prozan wartet, die 2003 den ersten Wahlkampf von Harris leitete.

Ein Wiedersehen alter Freundinnen, die die Anfänge von Harris’ steiler Karriere begleiteten und sich nun darüber unterhalten, wie aufregend es damals war – und wie viel ihnen aus jener Zeit heute wieder einfällt, im aktuellen Wahlkampf um die Präsidentschaft.

«Kamala mag keine Bullys. Und Hallinan war ein Bully», sagt Prozan. «Eine Sache, die er immer wieder tat, war, ihren Namen falsch auszusprechen, um sie aus dem Konzept zu bringen.» So, wie das heute Trump macht.

Als Harris Prozan zur Wahlkampfleiterin ernannte, lag sie in den Umfragen bei gerade einmal acht Prozent, hinter Hallinan und einem anderen Kandidaten. Prozan hatte den Auftrag, Harris in die Stichwahl zu bringen. Ihr Kampagnenbüro hatte Harris in Bay View eingerichtet, einem der ärmsten Quartiere von San Francisco, von dort aus zog sie mit Prozan, Mesloh und einer Schar von Freiwilligen durch die Stadt und klopfte an Haustüren.

Der Wendepunkt kam, als der «San Francisco Chronicle» Harris mit der Zeile unterstützte: «Harris für Recht und Ordnung». «Wir kopierten den Artikel und verteilten ihn vor Einkaufszentren und Bushaltestellen», sagt Prozan. Harris gewann die Wahl.

In ihrem heutigen Wahlkampf gegen Trump spricht Harris oft über ihre Zeit als Strafverfolgerin. Und sie meint dabei besonders jene acht Jahre, die sie an der Spitze der Bezirksstaatsanwaltschaft von San Francisco verbrachte, bevor sie Justizministerin von Kalifornien wurde und später Senatorin in Washington.

«Ich habe gegen alle Arten von Verbrechern gekämpft», sagte sie bei einem Auftritt in Wisconsin im Sommer. «Sexualstraftäter, die Frauen missbraucht haben, Betrüger, die Konsumenten abgezockt haben, Gauner, die die Regeln zu ihrem eigenen Vorteil gebrochen haben. Glauben Sie mir: Ich kenne Trumps Typ.»

Harris nutzte ihr Amt als Bezirksstaatsanwältin, um Einfluss auf die Politik zu nehmen. Sie setzte sich zum Beispiel für ein Gesetz ein, das die sexuelle Ausbeutung in Kalifornien unter höhere Strafen stellt. Ihr wichtigstes Projekt war ein Programm namens «Back on Track». Damit erhielten nicht gewalttätige Ersttäter eine Alternative zu ihrer Haftstrafe, wenn sie ein strenges Ausbildungsprogramm bestanden.

«Back on Track» wurde ein Erfolg, später übernahm es das US-Justizministerium auf nationaler Ebene. Doch zumindest bei seiner Einführung war das Projekt sehr umstritten, und Harris bewies damit einen Mut, der heute nicht mehr zu spüren ist, wenn sie sich in ihren seltenen Interviews in Worthülsen und Banalitäten verliert.

Diese übertriebene Vorsicht, der Umstand, dass sie in ihren Haltungen oft schwer zu fassen ist: Das gehört schon lange zu Harris. Als in Kalifornien 2014 über eine umstrittene Gesetzesinitiative abgestimmt wurde, die tiefere Strafen für bestimmte Diebstähle und Drogendelikte vorsah, vermied es Harris, öffentlich Stellung zu beziehen.

Die Vorlage kam durch, aber viele in Kalifornien sehen das rückblickend als Fehler, und im November wird darüber abgestimmt, die Strafen wieder zu verschärfen. Harris hat sich bis heute nicht dazu geäussert.

Schlüsselmoment der Geschichte

Das Silicon Valley, das an San Francisco grenzt, ist schwer zu fassen – geografisch, aber auch politisch. Seine Vertreterinnen und Bewohner standen im Ruf, zuverlässig die Demokratische Partei zu unterstützen. In den vergangenen Monaten hat sich das allerdings geändert. Es gibt einige bekannte Vertreter der Tech-Industrie, die neuerdings mit Trump sympathisieren.

Elon Musk ist einer von ihnen, die bekannten Wagniskapitalgeber Marc Andreessen und Ben Horowitz sind zwei andere. Auch einige reiche Vertreter der Krypto-Industrie haben erklärt, dass sie die Republikaner unterstützen würden. Sie versprechen sich von einem Präsidenten Trump weniger Regulierung bei der künstlichen Intelligenz und bei digitalen Währungen. Das reichte schon, damit in den Medien Dutzende von Artikeln erschienen, in denen von einem Rechtsrutsch im Silicon Valley zu lesen war.

Julia Collins hält nichts von dieser These. Sie empfängt in einem Coworking-Space, in dem sich einige Startup-Firmen eingemietet haben. Auf den Klubtischen in der Lobby liegen Kunstbücher und Designbibeln, in der offenen Küche dampft eine teure italienische Kaffeemaschine.

Collins bittet in ein Sitzungszimmer, der Blick aus dem Fenster geht auf eine Kreuzung im North End von San Francisco, wo gerade eines der selbstfahrenden Robo-Taxis den Verkehr blockiert, das Hupen der Autos dringt durch die Scheiben des Büros.

Julia Collins: «Diese Wahlen fühlen sich an wie ein Schlüsselmoment der Geschichte.»

Julia Collins: «Diese Wahlen fühlen sich an wie ein Schlüsselmoment der Geschichte.»

Collins Karriere als Geschäftsfrau begann früh. Als Kind in San Francisco pflückte sie Blumen, band daraus Sträusse und verkaufte sie in der Nachbarschaft. Nach ihrem Wirtschaftsstudium gründete sie mehrere Startup-Firmen in der Lebensmittelbranche. Darunter war eine, die Pizzas von Robotern produzieren lässt und zu einem unicorn wurde: «Einhörner» nennt man Firmen, die mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet werden. Ihr neuestes Startup ist im Klimatech-Sektor tätig.

Collins hat sich nie politisch engagiert – business first. Doch das ist jetzt anders. Zusammen mit drei anderen Frauen aus dem Silicon Valley hat Collins eine Gruppe namens Tech4Kamala gegründet. Es ist ein Aufruf von Firmeninhaberinnen, Geschäftsleuten und Angestellten aus der Tech-Branche, die sich für die Präsidentschaftskandidatur von Harris aussprechen.

Mehr als 1300 Personen haben den Appell bereits unterschrieben. Tech4Kamala sei eine direkte Reaktion auf all die Geschichten über die angebliche Hinwendung des Silicon Valley zu Trump, sagt Collins: «Das deckt sich nicht mit meiner Wahrnehmung. Das sind die Stimmen von ein paar Milliardären mit sehr lauten Mikrofonen.»

Als sie die Menschen in ihrem Umfeld fragte, ob sie sich vorstellen könnten, Trump zu wählen, war die Antwort jeweils ein klares Nein. «San Francisco steht für Freiheit und Gleichheit, das sind unsere Werte, und sie haben auch Harris geprägt. Trump steht für das Gegenteil.»

Und was ist mit den Stimmen aus der Wirtschaft, die sich von den Republikanern tiefere Steuern und weniger Regulierung erhoffen? «Die mag es geben», sagt Collins, «aber Harris weiss genau, was die Wirtschaft im Silicon Valley braucht.» Sie zählt auf: Fördergelder für kleine Unternehmen, Investitionen in die Bildung, eine Einwanderungspolitik, die Firmen Zugang zu den besten Talenten ermöglicht. So weit, so nüchtern.

Dann aber lehnt sich Collins im Stuhl nach vorne, legt die Finger mit den vielen Ringen auf den Tisch und sagt: «Diese Wahlen fühlen sich an wie ein Schlüsselmoment der Geschichte. Imperien können enden. Und auch die Idee von Amerika als Bastion der Demokratie, der Freiheit und der Gleichheit kann enden. Eine weitere Trump-Präsidentschaft wäre ein Zeichen dafür, dass viele Dinge, die wir über Amerika glauben, gar nicht wahr sind.»

Es sagt viel über den Zustand der USA aus, dass inzwischen selbst Geschäftsfrauen so düster klingen. In einer gesunden Demokratie zu leben, bedeutet auch, sich nicht immer um Politik kümmern zu müssen.

Es bedeutet, Vertrauen zu haben, dass es in der Politik nicht immer um alles geht – dass die nächste Wahl nicht die letzte sein wird. Doch in einem Amerika, in dem Trump noch immer alles dominiert, sind diese Gewissheiten in Gefahr. Man merkt das selbst in San Francisco, diesem Safe Space für Demokraten, der den Fortschritt feiert und gleichzeitig die eigenen Ungerechtigkeiten übersieht.

Kamala Harris hat gelernt, sich in diesen Widersprüchen zu bewegen und eine eigene Marke zu werden. Sie hat hier auch ein Gespür dafür entwickelt, wann es sich für sie lohnt, im Ungefähren zu bleiben – eine Projektionsfläche zu sein. So, wie sie sich im jetzigen Wahlkampf mit einigem Geschick als Kandidatin des Wandels verkauft, obschon sie in Washington doch seit drei Jahren mitregiert.

Gewinnt Harris die Wahlen im November, dann regiert im Weissen Haus künftig eine «San Francisco Liberal», eine Linke aus San Francisco, die Tochter von Aktivisten, die ihre Karriere als Staatsanwältin lancierte, pragmatisch, durchsetzungsfähig, auch opportunistisch. Die sich bei den Moderaten wohlfühlt und beim Geld, von dem es in dieser Stadt so viel gibt. Die in einer politischen Landschaft, die nur auf den ersten Blick harmonisch wirkt, überlebte und gedieh.

Schafft sie es nicht, dann kehrt Harris vielleicht zurück an den Ort, der sie geprägt hat, an dem alles begann.

Sie hätte dann immer noch den Blick auf die Bucht, auf die Hügel mit ihren Stufen und Treppen, so viele Hügel, und auf den Nebel, der kommt und geht. Herb Caen, der Chronist der Stadt, der sich an ihrer Schönheit nie sattsehen konnte, nannte San Francisco gerne «Bagdad an der Bucht», er schrieb das in einer Zeit, als man mit Bagdad noch die Magie des Orients verband, Tausendundeine Nacht. Leben im Märchenland: Es gäbe Schlimmeres.

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