Ratgeber: Warum brauchen wir so viele Ratschläge?

Die Welt der Ratgeber-Literatur

Ist Espresso nach 14 Uhr schlecht?

Unser Autor hat den internationalen Bestseller «50 Erfolgsmodelle» geschrieben. Hier erklärt er, woher unser Bedürfnis nach Ratschlägen kommt.

Publiziert heute um 10:29 Uhr

Wer das halbe Internet gelesen hat und alle Ratgeberbücher kennt, ist vermutlich verunsichert.

Illustration: Cristina Daura

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Vor mehr als viertausend Jahren machte ein alter ägyptischer Beamter namens Ptahhotep einige beunruhigenden Beobachtungen: Seine Kraft schwand, das Aufstehen und Hinsetzen machten ihm Mühe, die Augen wurden trüb, die Ohren taub. Auch das Schlafen fiel ihm schwer.

«Das Gute wird zum Schlechten», schloss Ptahhotep. «Was das Alter dem Menschen antut: Schlimmes in jeder Weise.»

Er klagte sein Leid dem Pharao Asosi, und dieser gab ihm einen erstaunlichen Rat. Asosi wies Ptahhotep an, alles, was er über das Leben wisse, aufzuschreiben, «denn keiner wird weise geboren».

In diesem kleinen Moment zwischen dem Pharao und seinem Beamten – wir kommen noch darauf zurück – steckt die ganze komplexe Dynamik des Ratsuchens und Ratgebens.

Ptahhotep also setzte sich hin und begann niederzuschreiben, was er wusste. In hieratischer Schrift, einer den Hieroglyphen verwandten Kursivschrift, formulierte er auf Papyri Ratschläge an seinen «Sohn» (gemeint war wohl sein Nachfolger als Beamter). Manche waren kryptisch:

«Inmitten von Lob kommt kein Gerede auf / aber so (plötzlich) wie das Krokodil auftaucht, entsteht Streit.»

Andere waren so klarsichtig, dass man Ptahhotep auf der Stelle die Hand schütteln möchte:

«Folge deinem Herzen, solange du lebst / und tue nicht mehr, als von dir verlangt wurde.»

Als er fertig war, umfassten seine Weisheiten sieben Meter Papyrus. Ptahhotep hatte den ersten Ratgeber der Welt geschrieben.

Allein die Suche nach Informationen beruhigt uns

In den mehr als viertausend Jahren, die seither vergangen sind, hat sich eine milliardenschwere Ratgeberindustrie entwickelt, die auf das immer gleiche Problem abzielt:

Wir wären gern anders, als wir sind. Wir wären gern mutiger, schöner, erfolgreicher, schlauer, schlanker, achtsamer. Oder würden, wie Ptahhotep im alten Ägypten, gern einfach mal durchschlafen. Und weil sich zu dem Wunsch nach Veränderung die Hoffnung gesellt, dass das auch möglich ist, suchen wir Rat. Wer hat nicht schon einmal gegoogelt: «schlafen sofort wie?» oder «espresso nach 14 uhr schlecht?».

Was im Anschluss an solche Recherchen passiert, ist eine wohl vielen bekannte und inzwischen auch recht gut belegte Reaktion:

1. Allein die Suche nach Informationen und Antworten beruhigt uns, unabhängig davon, ob wir den Ratschlag befolgen oder nicht. Wissen, was man machen könnte, ist Macht.

2. Wenn die Antwort aber verwirrend oder negativ ausfällt, verstärkt das unsere Unruhe. Nicht wissen, was man machen soll, ist Ohnmacht.

Wenn wir uns Sorgen um unseren Schlaf machen, kann es allein schon beruhigend sein, «Sieben Tipps fürs Einschlafen» zu lesen, selbst wenn wir sie dann gar nicht beherzigen. Allein das Wissen, dass wir etwas tun könnten, verleiht uns ein Gefühl der Handlungsfähigkeit.

Dem Ratschlag kommt in solchen Fällen, wie der Kulturanthropologe Timo Heimerdinger schreibt, eine Art «Amulettfunktion» zu: Man trägt den Ratschlag mit sich herum wie einen Talisman, und schon das wirkt sich beruhigend aus. Das blosse Vorhandensein von Rat verleiht Halt, unabhängig davon, ob wir ihn befolgen.

Wenn wir aber lesen, dass schlechter Schlaf mit vorzeitig einsetzender Demenz korreliert, oder wenn uns zu viele oder zu widersprüchliche Ratschläge nahegelegt werden, belastet uns diese Mehrinformation und lässt uns ratloser zurück als zuvor.

Dann, so Heimerdinger, führe der Rat zu Rastlosigkeit.

Im Netz zum Stichwort «Schlaflosigkeit» zu recherchieren, kann Sie um den Schlaf bringen.

Foto: Maria Sturm/Connected Archives

In der Forschung spricht man in solchen Fällen von einem «Information Overload»: Wenn wir Information aufnehmen, beruhigt uns das zunächst und führt zu einem Gefühl der Sicherheit im Umgang mit der Situation, aber es gibt einen Tipping-Point, man kann auch «zu viel» wissen: Die schiere Menge an Informationen führt zu einer neuen Verunsicherung oder gar Handlungslähmung.

Man googelt «Muttermal Krebs?», und drei Stunden später weiss man sehr viel mehr, aber immer noch nicht, ob man zum Hautscreening gehen sollte oder nicht. Die Suche nach Rat kann also Beruhigung und Verunsicherung auslösen, die Informationsflut ermächtigt und unterwirft uns: Dem Zugang zu unbegrenztem Wissen steht die Erfahrung der Überforderung gegenüber.

Früher gabs weniger Ratschläge – und weniger Platz für Zweifel

Während die Suche nach Ratschlägen ein universelles, zeitloses Phänomen ist, scheint die Überforderung durch Rat ein jüngeres zu sein. Denn über Jahrtausende waren die Instanzen der Ratgebung ebenso rar wie eindeutig: die Dorfältesten, die Geistlichen, das Orakel. Es gab keinen Raum für Zweifel oder Zweitmeinungen, weniger Möglichkeit, aber vielleicht auch weniger Bedarf, sich selbst «schlauzumachen».

All das änderte sich Anfang des 20. Jahrhunderts, als mit der Psychoanalyse die Grundlagen unserer heutigen Therapiegesellschaft gelegt wurde. In der Folge entstanden einige Klassiker der Ratgeberliteratur: Gustav Grossmanns «Sich selbst rationalisieren» (1927), Napoleon Hills «Think and Grow Rich» (1937) oder Dale Carnegies «How to Win Friends and Influence People» (1937).

Die Ratlosigkeit des Menschen wurde als Chance begriffen, nicht nur Hilfe anzubieten, sondern damit auch Geld zu verdienen.

Die Entstehung der modernen Ratgeberkultur ging ausserdem einher mit einer Veränderung politischer Machtstrukturen. In den vormodernen Epochen hatte es Instanzen, etwa Könige, gegeben, deren Wissen als unhinterfragbar und deren Macht als unumstösslich galt und die die Menschen mit repressiven Methoden unterdrückten.

Selbstoptimierung = selber schuld

Im Zuge der Moderne veränderten sich diese Machtformen, die Menschen wurden nun nicht mehr von den Obrigen unterworfen – das Ziel war es vielmehr, die Menschen ausgehend von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu optimieren. Der französische Philosoph Michel Foucault machte sich mit seinen Untersuchungen zum Thema einen Namen.

Nun ist es bekanntlich leichter, seinen eigenen Ellenbogen zu küssen, als Foucault wiederzugeben, deshalb an dieser Stelle nur eine sträflich abgekürzte Zusammenfassung: Die neuen Machtformen zeigten sich in der Gesundheitspolitik, in der Schule, in Fabriken, im Gefängnissystem.

Foucault zufolge waren diese Institutionen zunehmend darauf ausgerichtet, Menschen nicht mehr zu erziehen, zu heilen oder zu bestrafen, sondern die Leistungskraft der Menschen zu steigern, ganz im Geiste kapitalistischer Wachstumsideen und Fortschrittserzählungen. Dabei wurde die Idee der Optimierung immer mehr in das Individuum selbst hineinverlagert: Der moderne Mensch soll sich nicht bevormundet fühlen, sondern sich aus freien Stücken selbst optimieren. Sich selbst regieren.

Das Wissen über eine optimale Gesundheit und Lebensweise wurde mit dem Versprechen von Freiheit und Selbstverwirklichung verknüpft. Wenn ich mich an bestimmte Gesundheitstipps halte, bleibe ich gesund; wenn ich gesund bin, schlafe ich besser; wenn ich besser schlafe, bin ich leistungsfähiger; wenn ich leistungsfähiger bin, bin ich erfolgreicher, attraktiver, glücklicher.

Foucault sprach bereits in den Siebzigerjahren von «Techniken des Selbst», was abenteuerlich klingt. Doch heutige Methoden der Selbstüberwachung (zum Beispiel der «Oura Sleepscore» oder Apples «Aktivitätsringe») scheinen ihm recht zu geben.

Eine solche «Selbstregierung» bedeutet nicht, dass jemand uns zwingt, jeden Tag 10’000 Schritte zu machen, vielmehr haben wir die Freiheit, es zu tun oder eben nicht. Und genau in dieser Freiheit stecken eine Unfreiheit und ein enormer Druck: Denn wer es nicht tut, ist selbst schuld, wenn es ihm oder ihr schlecht geht.

Das Versprechen einer freien Gestaltung des eigenen Glücks geht also einher mit einer Eigenverantwortlichkeit für das Glück. Wer Krebs bekommt, hat nicht gesund genug gelebt; wer den Job verliert, war nicht fit genug für den Konkurrenzkampf; wer nicht aktiv um Rat sucht, dem wird auch nicht geholfen.

Die Motive des Ratsuchens basieren also nicht nur auf Neugierde, sondern auf Sorge oder gar Angst, im Leben nicht zu bestehen. Man will nicht nur Neues erfahren, man muss es. Getrieben von der Vorstellung, Dinge richtig machen zu müssen, informieren wir uns ins Grab.

Gen Z sucht rat auf Social Media

Zum Druck des Ratschlagsuchens gesellte sich dann ab den 2000er-Jahren die Uferlosigkeit der Digitalisierung. Seit wir uns online informieren können, ist die Ratgeberkultur explodiert, die ständige Verfügbarkeit und unbegrenzte Menge an Informationen im Internet führen zu einer fast zwanghaften Suche nach immer neuen Ratschlägen und Lösungen.

Und die sozialen Medien können diese besessene Suche nach (medizinischer) Selbsthilfe noch verstärken: Wenn wir sehen, wie andere über ihre gesundheitlichen Erfahrungen und Ratschläge berichten, kann das ein Gefühl der Dringlichkeit erzeugen, es ihnen gleichzutun. Als Cyberchondrie wird die zwanghafte Onlinesuche nach (medizinischem) Rat bezeichnet.

«Wir erleben», so schreibt es die Psychiatrie-Historikerin Nadia Pettannice, «auf Tiktok gerade den Aufstieg einer neuen Mental-Health-Bewegung.» Besonders die Generation Z suche immer seltener Rat bei traditionellen medizinischen Strukturen, sondern orientiere sich lieber an Leidensgenoss:innen auf Social Media. Während sich also bisher das Ratsuchen vornehmlich an Expert:innen richtete, werden Betroffene nun zunehmend zu Expert:innen ihrer selbst, die sich in den sozialen Medien, aber auch auf privat organisierten Whatsapp-Gruppen austauschen und gegenseitig «coachen». Es ist ein zweischneidiges Schwert.

Nützen denn all die Tipps und Lifehacks auch was?

Die Selbsthilfekultur führt zu mehr Selbstermächtigung, mehr Kontakt unter Betroffenen, aber sie fördert auch einen fast zwanghaften Daueraustausch, unterwandert mitunter wissenschaftliche Expertise und öffnet medizinischen Verschwörungstheorien die Tür oder erzeugt gar erst die Probleme, die sie vorgibt zu lösen.

Wir Menschen sind gierig nach Tipps, Tricks, Lifehacks, aber wie genau die Dynamik zwischen dem Kauf von Büchern, dem Bingen von Tiktok-Videos, dem Googeln nach Diättipps, dem Konsultieren der eigenen Whatsapp-Gruppe und unseren Handlungen funktioniert, bleibt unklar. Ändern wir unsere Gewohnheiten gemäss den Ratschlägen, oder dienen diese mehr der Ablenkung und Beruhigung – werden also eher konsumiert als befolgt?

Liebes Internet: Brauche ich ein neues Handy?

Foto: Vincent Forstenlechner/Connected Archives

In den Worten von Tony Robbins, einem der bekanntesten zeitgenössischen Self-Help-Gurus: «Lots of people know what to do, but few people actually do what they know.» Wir wissen, was zu tun wäre, aber wir tun es nicht.

Wir sind, so lehrt die eigene Erfahrung, bis zu einem gewissen Grad beratungsresistent. Ein Teil in uns weigert sich offensichtlich, ein perfekter Mensch zu sein und den (gut gemeinten) Optimierungsvorschlägen tatsächlich zu entsprechen.

Der Mensch ist wohl nicht ganz so vernunftgetrieben und fleissig, wie er gerne wäre, sondern immer auch widerborstig und träge. Auch wenn wir wissen, dass uns mehr Schlaf guttun würde, gehen wir zu spät ins Bett. Vielleicht ahnen wir aber auch, dass wir uns abstrampeln können, wie wir wollen.

Die Gründe, warum es uns nicht gut geht, liegen nicht nur im mangelhaften Befolgen von Gesundheitstipps, sondern vielleicht auch in komplizierten gesellschaftlichen Bedingungen, die wir kaum beeinflussen können. In dieser Lesart erscheint unsere Unfähigkeit, Ratschläge zu befolgen, fast wie ein Akt des Widerstandes gegen die ständigen Vorschläge zur Verbesserung unseres Lebens.

Teenager beraten Teenager – ein Grosserfolg

Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum wir gern nach Ratschlägen suchen, sie aber oft nicht befolgen.

Drei Forscherinnen, Lauren Eskreis-Winkler, Ayelet Fishbach und Angela Duckworth, haben sich über Jahre hinweg mit Teenagern beschäftigt. Sie versuchten, ihnen gute Ratschläge zu geben, zum Beispiel, um nachts mehr Schlaf zu bekommen. Manchmal klappte es, aber oft auch nicht. Also stellten sie das Konzept auf den Kopf und fragten die Teenager:

«Was denkt ihr: Was ist der beste Rat, den ihr einem anderen Teenager geben könntet?»

Die Reaktion war überwältigend. Nicht nur waren die Ratschläge auf der Höhe neuster verhaltenspsychologischer Ansätze – etwa über den Umgang mit Smartphones: «Stummschalten und in einem anderen Raum legen oder am besten gleich einer Freundin geben.» Oder über den Umgang mit Niederlagen: «Wenn du versagst, dann liegt das nicht an dir als Person. Es ist einfach passiert, und du solltest immer nach etwas suchen, was du daraus lernen kannst.» – aber da war noch mehr: die Jugendlichen schienen plötzlich auch motiviert, ihre eigenen Ratschläge zu befolgen.

Nun teilten die Forscherinnen die Schüler:innen in zwei Gruppen: Die eine Gruppe sollte einen kurzen Brief verfassen, in dem sie einem jüngeren Schüler oder einer jüngeren Schülerin Tipps gaben, wie man sich fürs Vokabellernen motivieren kann – das war die Gruppe, die Rat gab. Die andere Gruppe sollte einen Text über Hausaufgabenmotivation lesen – das war die Gruppe, die Rat erhielt.

Anschliessend schauten die Forscherinnen, wie lange die beiden Gruppen im Folgemonat mit einem Online-Tool Vokabeltraining machten. Das Ergebnis: Die Gruppe, die Rat erteilt hatte, war deutlich motivierter und sass länger am Vokabeltraining als die andere Gruppe.

Die Forscherinnen schlossen daraus, dass es uns lustigerweise mehr motiviert, anderen Ratschläge zu geben, als sie bloss zu erhalten. Und dass das Ratgeben dazu führt, dass wir die Ratschläge auch selbst eher einhalten.

Geteilter Jammer

Kommen wir noch einmal zurück zu Ptahhoteps Lebensweisheiten, die er vor viertausend Jahren auf Papyrus niederschrieb. Die Schrift wird gelegentlich als das älteste Buch der Welt bezeichnet.

Ob es das ist und ob es die historische Person Ptahhotep überhaupt gegeben hat, ist umstritten. Unbestritten aber ist der Inhalt: Ein Mann jammerte über seine Gebrechen. Wenn man so will, suchte er nach Rat.

Der Pharao aber, vielleicht schon ahnend, dass Ptahhoteps Leben unausweichlich dem Ende zuging, gab ihm keinen Rat, sondern eine Aufgabe. Er forderte ihn auf, anderen – seinen Nachfolgern – einen Rat zu erteilen. Er fragte Ptahhotep, was die Forscherinnen viel später die Teenager fragten: Was würdest du anderen raten?

Es ist nicht überliefert, wie es dem armen Ptahhotep erging, aber die Klarheit, mit der er seine Ratschläge niederschrieb, lässt die Vermutung zu, dass wir uns ihn in seinen letzten Stunden vielleicht als leidend, aber wohl doch glücklich vorstellen dürfen.

Mikael Krogerus ist Buchautor und Redaktor bei «Das Magazin».

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Mikael Krogerus ist Redaktor und Kolumnist («Krogerus & Tschäppeler») beim «Magazin». Zuvor war der gebürtige Finne Redaktor beim «NZZ Folio».Mehr Infos@MikaelKrogerus

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