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Dalai Lama in Zürich: Sinkt sein Stern?

Dalai Lama in Zürich: Sinkt sein Stern?

Der geistliche Führer der Tibeter besucht am Wochenende die Schweiz. Die Politik macht einen weiten Bogen um ihn – sehr zur Freude Pekings.

Nach einem wochenlangen Klinikaufenthalt in den USA wird der Dalai Lama am Wochenende in Zürich auftreten.

Nach einem wochenlangen Klinikaufenthalt in den USA wird der Dalai Lama am Wochenende in Zürich auftreten.

Ashwini Bhatia / AP

Die Schweiz erhält hohen Besuch: Der Dalai Lama wird am Sonntag im Zürcher Hallenstadion auftreten. Die Veranstaltung ist schon lange ausverkauft. Das Interesse ist so gross, dass die Veranstalter zusätzlich zu den bereits abgesetzten 9600 Billetts 2000 weitere Sitzplätze zum Verkauf freigaben. Diese befinden sich hinter der Bühne. Sehen wird man den geistlichen Führer der Tibeter von dort aus nicht. Auch die Videoleinwand im Stadion dürfte von diesen «billigen Plätzen» aus kaum zu erkennen sein.

Aber das macht nichts. Die Anhänger des Dalai Lama wollen ihm einfach nahe sein.

«Wir freuen uns sehr auf Sonntag», sagt Karma Lobsang, die Stiftungsratspräsidentin des Tibet-Instituts in Rikon im Tösstal. «Das ist ein Geschenk.» Karma Gahler, die Co-Präsidentin des Vereins Tibeter Jugend in Europa, findet es «megaschön»: Der Besuch des Dalai Lama sei eine Ehre für die Schweiz. Zumal sich ein solcher nicht mehr allzu oft wiederholen dürfte.

In der tibetischen Diaspora – sie zählt in der Schweiz über 8000 Menschen und steht damit für die grösste Gemeinde von Exil-Tibetern in Europa – ist die Strahlkraft «Seiner Heiligkeit» ungebrochen.

Und in der hiesigen Politik?

Pictures From History / Imago

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Links: Tenzin Gyatso im Alter von zwei Jahren, kurz nachdem er als «Wiedergeburt» des 13. Dalai Lama identifiziert wurde. Rechts: Der Dalai Lama (sitzend im schwarzen Gewand) in Begleitung tibetischer Soldaten auf seiner Flucht von Tibet nach Indien im Jahr 1959.

Sie ignoriert die Visite des tibetischen Würdenträgers nach Kräften. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) teilt mit, dass man über den Besuch informiert worden sei. Der Aufenthalt des Dalai Lama sei spiritueller Natur, es handle sich nicht um ein Arbeitstreffen zwischen Staatsvertretern. Weiter bestätigt das EDA auf Anfrage, dass die chinesische Botschaft in Bern «ihre Sicht auf den Besuch des Dalai Lama» dargelegt habe. Man habe dies zur Kenntnis genommen.

Ähnlich zurückhaltend äussert sich die Zürcher Kantonsregierung. Die Staatskanzlei lässt ausrichten, dass der Regierungsrat nicht vorhabe, den Dalai Lama zu treffen. Auf die Frage, ob Zürich deswegen auf eine Zusammenkunft mit dem obersten Vertreter der Exil-Tibeter verzichte, um Peking nicht zu verärgern, antwortet der Sprecher der Exekutive ausweichend: Der Bund sei zuständig für die Aussenpolitik. Und diese setze auf «Kohärenz», wie dies in der China-Strategie des Bundesrats festgehalten sei.

«Free Tibet!» – als Jiang Zemin in Bern der Kragen platzte

Die diplomatischen Antworten passen zum Eiertanz, den die Schweiz in Sachen China und tibetische Minderheit seit Jahren aufführt: Man bleibt höflich-unverbindlich, verweist wie das EDA auf frühere Treffen wie jenes der damaligen Nationalratspräsidentin Maya Graf, die den spirituellen Führer der Tibeter 2013 empfangen hatte. Aber eigentlich möchte man mit dem Dalai Lama und der Lage der Menschenrechte in Tibet lieber nichts zu tun haben – zumindest nicht öffentlich, nicht offiziell.

Vor 25 Jahren war das noch ganz anders. Beim Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten Jiang Zemin in Bern im März 1999 kommt es zum Eklat: Auf dem Bundesplatz protestieren tibetische Aktivisten und Sympathisanten lautstark für ihre Heimat und gegen die Unterdrückung der tibetischen Sprache und Kultur durch Peking. Tibet-Fahnen werden geschwenkt, auf einem Dach gegenüber vom Bundeshaus steigen bunte Ballone in den Himmel, Transparente fordern China zum Dialog auf, Demonstranten skandieren «Free Tibet!».

Links: Als der chinesische Partei- und Staatschef Jiang Zemin im März 1999 die Schweiz besuchte, empfingen ihn Demonstranten mit der tibetischen Flagge auf dem Bundesplatz. Rechts: Der Dalai Lama plädierte anfangs für die Unabhängigkeit Tibets. Mittlerweile schlägt er einen Kompromiss vor: Tibet gehöre zu China, solle aber mehr Autonomie bekommen.

Jiang ist fassungslos. Er lässt die sieben Bundesräte eine halbe Stunde lang warten, verzichtet auf die militärischen Ehren vor dem Bundeshaus und wirft der Landesregierung in einer verärgerten Ansprache entgegen: «Sie haben einen guten Freund verloren!» Noch nie sei er derart unfreundlich empfangen worden. Bundespräsidentin Ruth Dreifuss reagiert gelassen. Der chinesische Staatsgast habe klar zum Ausdruck gebracht, dass er irritiert sei. «Aber das ist kein Affront. Zwischen Freunden ist es am wichtigsten, dass wir offen zusammen reden können», sagte die SP-Magistratin vor den Medien.

Auf den Vorwurf Jiangs, sie habe ihr Land nicht im Griff, antwortete Dreifuss später in einer Satire-Sendung am Schweizer Fernsehen: «Ja, im Würgegriff habe ich es nicht.»

«Wolf in Mönchskutte»

Es klingt wie aus einer anderen Zeit. Damals war es eine Selbstverständlichkeit, gegenüber China für Menschenrechte und freie Meinungsäusserung einzustehen. Ob Bill Clinton, George W. Bush, Barack Obama, Angela Merkel oder Nicolas Sarkozy: Die Mächtigen der Welt liessen sich gerne ablichten mit dem Dalai Lama. Der Friedensnobelpreisträger von 1989 stand für das Gute in der Welt, für Dialog und Kompromiss, ein respektvolles Miteinander.

Markus Schreiber / Reuters

Links: Der Dalai Lama bei seinem zweiten und letzten Treffen mit Angela Merkel im Jahr 2007. Rechts: Der Dalai Lama und Barack Obama diskutieren zusammen im Weissen Haus im Jahr 2010. Die beiden trafen sich mindestens fünfmal, letztmals im Jahr 2017.

Nun wird er von Staats- und Regierungschefs aber seit Jahren gemieden. Was ist passiert?

Den Machthabern in Peking gelingt es zunehmend, den Dalai Lama zu marginalisieren. Er verkörpert das pure Gegenteil der kommunistischen Parteidoktrin: Mitgefühl statt Machtstreben, Selbstbestimmung statt Kontrolle, Gewaltlosigkeit statt Unterdrückung. Seine moralische Überlegenheit macht ihn für Peking so gefährlich. Für die Partei ist er ein «Wolf in der Mönchskutte». Peking versteht ihn als Separatisten, obwohl er keinen unabhängigen tibetischen Staat fordert, sondern kulturelle und religiöse Freiheiten für seine Landsleute. In Tibet ist es verboten, über ihn zu sprechen. Man darf auch kein Bild des Dalai Lama aufhängen.

Diese repressive Politik bekommen auch ausländische Unternehmen zu spüren. 2018 postete die deutsche Automarke Mercedes auf Instagram ein Zitat des Dalai Lama. Auf seinem chinesischen Social-Media-Kanal entschuldigte sich der Mutterkonzern Daimler umgehend dafür, mit «falschen Informationen» die «Gefühle der Chinesen verletzt» zu haben.

Auch Sänger ziehen die Verärgerung Chinas auf sich. Lady Gaga, Björk oder die Band Maroon 5 – sie alle dürfen nicht in China auftreten. Ihre Musik wurde von Chinas Streaming-Plattformen entfernt, weil sie den Dalai Lama trafen oder sich für die Rechte der Tibeter aussprachen. Richard Gere, der grosse Filmstar der neunziger Jahre («Pretty Woman»), hat bei den Oscar-Verleihungen von 1997 die Menschenrechtsverletzungen in Tibet angeprangert. Seither darf er nicht mehr nach China reisen, und er sagt, er habe wichtige Hollywood-Filmrollen nicht bekommen, weil mächtige chinesische Investoren dies verhindert hätten.

Brendan Smialowski / Bloomberg

Alessandro Bianchi / Reuters

Links: Der Schauspieler Richard Gere und die einflussreiche frühere Speakerin im Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, vor dem Capitol in Washington, 2007. Der Dalai Lama erhielt vom Kongress die höchste zivile Auszeichnung des Landes zugesprochen. Rechts: Der Dalai Lama wird im Jahr 2009 Ehrenbürger von Rom.

Der amerikanische Präsident Joe Biden hat den Dalai Lama nie im Weissen Haus empfangen, obwohl er dies im Wahlkampf 2020 versprochen hatte. Als sich der geistliche Führer der Tibeter in den vergangenen Wochen in einer Rehaklinik in New York von einer Knieoperation erholte, schickte Biden eine Staatssekretärin vorbei und liess schöne Grüsse ausrichten – ein durchschlagender Erfolg für die chinesische Regierung.

China setzt sich durch

Die USA wollen offenbar vermeiden, die ohnehin schon fragilen Beziehungen zu China weiter zu destabilisieren. Die Drohgebärden Pekings haben die gewünschte Wirkung erzielt – auch in der Schweiz. Der Nachrichtendienst des Bundes schreibt in seinem Lagebericht von 2016: «Offizielle Empfänge des Dalai Lama werden von China in keiner Weise mehr geduldet und mit verschiedenen Massnahmen geahndet.» Diese reichten von Absagen von Staatsbesuchen bis zu Sanktionen gegen Schweizer Exportunternehmen.

Das könnte die hiesige Wirtschaft teuer zu stehen kommen. China, die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt, ist ein wichtiger Handelspartner. Nur mit der EU und den USA tauscht die Schweiz mehr Waren aus. Hinzu kommt, dass die Schweiz 2013 ein Freihandelsabkommen mit China geschlossen hat, als erstes Land in Europa. Diese handfesten Interessen will man nicht gefährden. Sie wiegen schwerer als schöne Worte und freundliche Gesten gegenüber dem geistlichen Oberhaupt der Tibeter – auch wenn der Dalai Lama eine besondere Ausstrahlung hat.

Links: Der Dalai Lama als junger Mann, bei seiner ersten Reise nach Europa im Jahr 1973. Rechts: Der Dalai Lama an einer Zeremonie 1985 im klösterlichen Tibet-Institut in Rikon im Kanton Zürich.

Er zieht sein Gegenüber in seinen Bann. «In seiner Gegenwart fühle ich mich so, wie ich bin. Die üblichen Rollenspiele fallen weg», sagt Christof Spitz, der seit über dreissig Jahren der Dolmetscher des Dalai Lama im deutschen Sprachraum ist. Spitz war selbst lange buddhistischer Mönch. Er betrachtet den Dalai Lama als einen Freund und Lehrer. Er wird am Sonntag auch im Hallenstadion in Zürich übersetzen. Der Dalai Lama halte oft die Hände seines Gesprächspartners, oder er drücke Stirn an Stirn und Nase an Nase als Geste der Zuneigung, sagt Spitz. «So schafft er es, die üblichen Barrieren zwischen den Menschen zu überwinden.»

Opfer einer Schmutzkampagne?

Diese Nähe wurde ihm im vergangenen Jahr zum Verhängnis. Im April zirkulierte ein 23 Sekunden langes Video in den sozialen Netzwerken. Es zeigt, wie der Dalai Lama in seinem Exil im nordindischen Dharamsala einem Knaben auf Englisch sagte: «Lutsch meine Zunge!»

Der Skandal war perfekt: Der Dalai Lama, Ikone des Friedens und ein Symbol der Hoffnung, belästigt einen wehrlosen Knaben. Die Welt war schockiert.

Tibeter beeilten sich, das Verhalten ihres Oberhaupts zu erklären: Der Dalai Lama habe die falschen Worte gewählt. Statt «Lutsch meine Zunge» hätte er «Iss meine Zunge» sagen sollen, «che le sa» auf Tibetisch. Dieser Spruch sei eine normale Neckerei von älteren Personen im Umgang mit kleinen Kindern. «Ein Grossvater sagt das zu einem Enkelkind, wenn er keine Leckerbissen mehr hat, wenn er alles gegeben hat, ausser seiner Zunge», erklärt der Anthropologe Magnus Fiskesjö von der Cornell University in New York im Gespräch. Der Spruch gehe auf den Brauch zurück, Babys und Kleinkindern das Essen vorzukauen und es ihnen dann von Mund zu Mund zu geben. Das sei in Kulturen üblich, die keinen Pürierstab und keine Säuglingsnahrung kennten.

«Die Geste des Dalai Lama war keine Pädophilie, sondern ein Ausdruck tibetischer Kultur», sagt Fiskesjö. Doch er verstehe, dass es ohne dieses Vorwissen als übergriffig interpretiert werde. Und: «Es war ein gefundenes Fressen für die chinesische Propaganda.»

Keystone-France/Gamma-Keystone

Links: Der junge Dalai Lama schüttelt die Hand des Gründers der Volksrepublik China, Mao Zedong, im Jahr 1954. Rechts: Der Anführer der Tibeter zu Besuch in Barcelona.

Doch das Video geht vermutlich nicht auf Akteure aus China zurück. Eine Recherche der NZZ zeigt, dass Pro-China-Aktivisten im Netz viel eher als Trittbrettfahrer aufgesprungen sind und das Video zusammen mit der Verunglimpfung des Dalai Lama als «Pädo» weiterverbreitet haben. Das hat China natürlich in die Hände gespielt.

Vielleicht ist er der Letzte

Es war die grösste Kontroverse, die der Dalai Lama ausgelöst hat, aber nicht die erste. 2015 sagte er in einem Interview mit der BBC, falls seine Nachfolgerin eine Frau werde, habe sie sehr, sehr attraktiv zu sein. Sonst wolle sie ja niemand anschauen. Eine Aussage, die Entrüstung auslöste, auch wenn der Dalai Lama danach in ein herzliches Lachen ausbrach. Schalk ohne Filter, politisch völlig unkorrekt – er wirkte aus der Zeit gefallen.

Und die Zeit läuft gegen ihn. Der Dalai Lama ist ein alter Mann, seit 2019 hat er seine Exilheimat Indien kaum verlassen, China ist übermächtig. Der kommunistische Staat setzt seine Politik der Unterdrückung der tibetischen Sprache, Kultur und Religion unbeirrt fort. Es scheint, als ob das Oberhaupt der Tibeter all die Jahrzehnte vergeblich um die Welt gereist ist: Die Lage seiner Landsleute in Tibet hat sich sogar noch verschlechtert.

Ist der Dalai Lama gescheitert? Dafür wirkt er erstaunlich vergnügt. Lange hegte er Hoffnung, nach Tibet zurückkehren zu können. Nun sagt er, dass ein Wandel gar nicht von ihm abhänge, sondern von den Chinesen selbst ausgehen müsse. Er sehe bereits Anzeichen dafür.

Links: Der Dalai Lama hat die tibetischen Regierungsstrukturen sukzessive demokratisiert. Die Exilregierung hat ein demokratisch gewähltes Parlament. 2011 hat der Dalai Lama die politischen Aufgaben an die Exilregierung abgegeben. Rechts: Der Geburtsort des Dalai Lama in Tibet liegt in der chinesischen Provinz Qinghai. Journalisten und Fotografen sind dort unerwünscht.

Nächstes Jahr wird der Dalai Lama 90 Jahre alt. Dann will er seine Anhänger wissen lassen, wie es nach seinem Tod und einer «Wiedergeburt» weitergehen soll. 2014 sagte er gegenüber der BBC, die «menschengemachte» Institution des Dalai Lama werde eines Tages aufhören zu existieren. Gleichzeitig hat er mehrfach erklärt, der nächste Dalai Lama werde in einem freien Land zur Welt kommen.

Der Dalai Lama macht zwar verwirrende Angaben zu seiner Nachfolge. Aber er verdeutlicht damit, dass nicht China entscheiden darf, wer der nächste Dalai Lama wird. Mehrfach sagte er, ein von Peking ausgewählter «dummer Dalai Lama» komme nicht infrage.

Vielleicht wird er der Letzte sein: «Es wäre doch viel besser, wenn die jahrhundertealte Tradition mit einem ziemlich beliebten Dalai Lama enden würde, oder?», sagte er der BBC – und lachte.

Mitarbeit: Forrest Rogers