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Darum ist jetzt die richtige Zeit für die Sonderkategorie Accessibility

Darum ist jetzt die richtige Zeit für die Sonderkategorie Accessibility

Wie steht es um die Accessibility in der Schweizer App-Landschaft?

Maria Timonen: Leider ist das Thema viel zu häufig noch ein Nachgedanke. Wenn überhaupt, wird die Barrierefreiheit oft spät im Entwicklungsprozess angepackt. Entsprechend sind Schweizer Apps darum grundsätzlich wenig barrierefrei.

Markus Böni: In meinem Team und aus eigener Erfahrung als Betroffener stelle ich täglich fest, dass die meisten Schweizer Apps nicht barrierefrei sind. Im Rahmen unserer aktuellen Accessibility-Studie haben wir eine Vielzahl von Schweizer Apps analysiert. Das Ergebnis war ernüchternd: Nur jede dritte populäre Schweizer App ist für Menschen mit Behinderungen wirklich nutzbar. Die übrigen Apps weisen erhebliche Mängel in der Barrierefreiheit auf, die eine uneingeschränkte Nutzung verhindern.

Von wem kommen Anfragen für barrierefreie Apps?

Maria Timonen: Am häufigsten kommen sie von jenen, die gesetzlich dazu verpflichtet sind, also von Behörden oder bundesnahen Unternehmen. So müssen zum Beispiel alle ÖV-Apps barrierefrei sein. Weitere Anfragen kommen aus der Privatwirtschaft von grösseren Unternehmen. Man merkt, dass eine gewisse Unklarheit vorhanden ist zu dem, was alles unter den Begriff der digitalen Barrierefreiheit fällt. Sprechen wir unsere Auftraggeberinnen und Auftraggeber auf Accessibility an, finden sie es wichtig. Allerdings heisst das nicht, dass sie dann auch ein Budget dafür haben. Deshalb setzen wir uns kontinuierlich dafür ein, unser Wissen zu diesem Thema weiterzugeben, die Verantwortlichen zu beraten und ihnen umsetzbare Lösungen im Rahmen ihres Budgets vorzuschlagen.

Markus Böni: Wir stellen allerdings auch eine Veränderung fest. Die Apps selbst sind zwar noch nicht unbedingt zugänglicher geworden. Aber das Bewusstsein für das Thema hat auch in der Privatwirtschaft durchaus zugenommen. Die Wichtigkeit von Accessibility wird wahrgenommen und diskutiert und damit auch öfter nachgefragt. Bisher kommen die Anfragen nach barrierefreien Apps vor allem von öffentlichen Einrichtungen, Non-Profit-Organisationen und einigen Vorreitern in der Privatwirtschaft. Grundsätzlich habe ich aber den Eindruck, dass die Nachfrage deutlich höher sein könnte. Mobile Apps machen prozentual gesehen noch einen sehr geringen Anteil an unseren Accessibility-Tests aus, obwohl wir mittlerweile regelmässig auch Apps testen. Das Bewusstsein für digitale Barrierefreiheit in mobilen Anwendungen wächst – es müsste jedoch bedeutend mehr sein gemessen an der Anzahl der auf den Markt kommenden Apps. Darum ist wichtig, dass wir weiterhin informieren und sensibilisieren, um das Thema noch stärker ins Bewusstsein zu rücken.
 

Woher kommt der Gesinnungswandel?

Markus Böni: Die Schweiz ist in letzter Zeit inklusiver unterwegs. Unlängst etwa erreichte die Volksinitiative “Für eine inklusive Schweiz” die nötigen 100’000 Unterschriften. Im Frühling 2024 fanden ausserdem schweizweite Aktionstage statt. Wir befinden uns also auf einer Inklusions-Welle und hoffen natürlich, dass sie noch lange nicht abflacht. Gefördert wird das Umdenken aber auch durch neue Gesetze, die bald in Kraft treten.

Sie erwähnten, dass Bemühungen um Barrierefreiheit oft am Budget scheitern. Wie überwinden erfolgreiche Auftraggeber dieses Hindernis?

Markus Böni: Das Budget ist oft ein Hindernis. Es ist aber nicht der einzige Grund für das Scheitern. Ein vorhandenes Budget ist jedoch der erste notwendige Schritt, um überhaupt etwas in Richtung Barrierefreiheit zu unternehmen. Dazu ist ein Umdenken erforderlich, das auf höchster Unternehmensebene beginnen muss: Barrierefreiheit darf nicht länger als Nice-to-have sein, sondern muss als Must-have betrachtet werden. Häufig fehlt es jedoch am notwendigen Know-how, um digitale Accessibility erfolgreich umzusetzen. Es ist wichtig zu verstehen, dass Accessibility kein reines Entwicklungsthema ist, sondern ein ganzheitlicher Ansatz, der das gesamte Unternehmen betrifft. Im Idealfall wird Accessibility so zu einem integralen Bestandteil der Unternehmens-DNA. Nur so kann langfristig sichergestellt werden, dass alle digitalen Angebote für alle Menschen zugänglich sind.

Maria Timonen: Darum helfen einerseits niederschwellige Angebote, die den Einstieg in das Thema Accessibility für alle ermöglichen und die Wichtigkeit zugänglicher Apps aufzeigen. Andererseits benötigen jene Personen spezifisches Know-how, die die Projekte umsetzen: designende, entwickelnde oder Projektmanagerinnen und -Manager.

Wie viel teurer ist eine barrierefreie App im Vergleich zu einer nicht barrierefreien Version?

Maria Timonen: Das ist unterschiedlich. Geht es etwa darum, eine bereits vorhandene App barrierefrei umzubauen, ist der Aufwand je nach Umfang der App tatsächlich hoch. Wir müssen in solchen Fällen viele Fehler korrigieren, die nicht passiert wären, wenn die Barrierefreiheit von Anfang an beachtet worden wäre. Entsprechend sind die Mehrkosten deutlich geringer, wenn man bei Neuentwicklungen schon vom Start weg an Accessibility denkt. So können Fehler auf jeder Stufe des Entwicklungsprozesses vermieden werden.

Ein Foto des Gesprächs zwischen Netzwoche-Redaktor René Jaun und Maria Timonen und Markus Böni.

Netzwoche-Redaktor René Jaun im Gespräch mit Maria Timonen und Markus Böni. (Source: zVg)

Welche Argumente sprechen für barrierefreie Apps?

Markus Böni: Rund ein Viertel der Gesellschaft ist auf barrierefreie Mobile Apps angewiesen. Dazu gehören rund 22 Prozent Menschen mit Behinderungen und eine wachsende Zahl älterer Menschen, die im Alter oft mit Einschränkungen konfrontiert sind. Allein in der Schweiz macht diese Gruppe rund 18 Prozent der Bevölkerung aus. Zusammen mit anderen betroffenen Gruppen, wie Menschen mit temporären Einschränkungen oder Sprachbarrieren, ergibt sich eine beträchtliche Anzahl potenzieller Nutzer. Jedes Unternehmen sollte sich daher fragen: Können wir es uns leisten, dieses Viertel der potenziellen Kunden von unseren Produkten auszuschliessen? Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob eine nicht barrierefreie Anwendung noch den inklusiven Werten des Unternehmens entspricht.

Was sind die grössten Knacknüsse beim entwickeln oder designen barrierefreier Apps?

Maria Timonen: Je nach App und ihrem Use Case sind die Knacknüsse verschieden. Ein häufiges Beispiel, das wir sehen, ist, dass die meisten Apps zunächst für die horizontale Ansicht (Portrait Mode) entwickelt worden sind. Laut einer Anforderung in den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) müssen Apps aber auch im Querformat (Landscape Mode) nutzbar sein. Wichtig ist das für jene User, die das Smartphone in einer fixen Halterung haben und es nicht drehen können. Das Einhalten dieses Kriteriums ist oft aufwändig, wenn es nicht schon von Beginn an mitgedacht worden ist. Viele WCAG-Kriterien sind dagegen einfach umzusetzen: Text Labels für Buttons, Farbkontraste einhalten, zusammengehörende Elemente gruppieren und so weiter. Sobald das Wissen vorhanden ist, können viele Anforderungen der Barrierefreiheit direkt in den Workflow der Designenden und Entwickelnden eingebaut werden.

Wie gut sind hiesige Developer und Designer gerüstet, um barrierefreie Apps zu entwickeln?

Maria Timonen: Wenn wir Apps und Webseiten vergleichen, unterscheiden sich sowohl deren Entwicklung wie auch die dazu nötigen Designprozesse stark voneinander. Aktuell gibt es viel mehr Ressourcen zu dem, wie man barrierefreie Webseiten designt und entwickelt. Zu Apps gibt es bedeutend weniger Material. Das ist natürlich eine Hürde, welche wir nun überbrücken wollen. Grundsätzlich ist das Design einer zugänglichen App keine Rocket Science und somit total machbar.

Markus Böni: Aus meiner Sicht wollen Unternehmen häufig auf Biegen und Brechen eine App veröffentlichen – selbst dann, wenn sie vielen Anforderungen, wie etwa der Barrierefreiheit, nicht gerecht wird.

Maria Timonen: Das ist ein verbreitetes Vorgehen bei der Entwicklung von Apps: Die erste veröffentlichte Version ist das Minimal Viable Product (MVP), welches nur die Kernfunktionen enthält. Für Accessibility ist dabei häufig kein Platz, ausser das Thema gehört wirklich zu den Grundanforderungen. In dem Fall könnten Entwicklerinnen und Designende zumindest darauf achten, grundsätzliche Accessibility-Fehler zu vermeiden, und die Apps so aufzubauen, dass in den späteren Phasen der Weiterentwicklung das Verbessern der Barrierefreiheit einfacher ist.

In der EU tritt bald der European Accessibility Act (EAA) in Kraft. In der App-Branche sorgt das für Verunsicherung. Wer aus der Schweiz ist betroffen?

Markus Böni: Der EAA betrifft Schweizer Unternehmen, die in der EU Produkte oder Dienstleistungen direkt an Konsumenten (B2C) anbieten, beispielsweise in den Bereichen E-Commerce, Telekommunikation oder Finanzdienstleistungen. Auch multinationale Unternehmen mit Niederlassungen in der EU unterstehen den Regelungen des EAA. Ebenfalls betroffen sind Schweizer Unternehmen, die sich an öffentlichen Ausschreibungen in der EU beteiligen. Schliesslich kann der EAA auch Schweizer Unternehmen betreffen, die Teil internationaler Lieferketten sind, insbesondere wenn ihre Produkte oder Dienstleistungen in die EU importiert oder in der EU weiterverarbeitet und verkauft werden.

Was müssen diese Unternehmen jetzt tun?

Markus Böni: Der EAA spezifiziert Normen bezüglich Accessibility. Sie basieren auf den WCAG, die schon länger für digitale Dienste von Schweizer Behörden gelten. Damit wird eine einheitliche Standardisierung geschaffen, die sicherstellt, dass alle Unternehmen die gleichen Zugänglichkeitsstandards einhalten müssen. Schweizer Unternehmen, die von der EAA betroffen sind, sollten ihre digitalen Produkte und Dienstleistungen jetzt überprüfen und sicherstellen, dass sie den festgelegten Standards entsprechen.

Was passiert, wenn jemand diese Normen nicht umsetzen kann? Und wie sieht es mit KMUs aus, die sich teure Redesigns nicht leisten können?

Markus Böni: Soweit ich weiss, sieht der EAA verschiedene Massnahmen bei Nichteinhaltung der Standards vor, die von Verwarnungen bis hin zu Geldstrafen reichen können. Diese Massnahmen werden von den jeweiligen Vollzugsbehörden in den EU-Staaten verhängt, die dabei einen gewissen Ermessensspielraum haben. Der EAA gilt in der Regel für Unternehmen, die eine bestimmte Umsatz- oder Beschäftigtengrenze überschreiten. Für KMUs, die sich teure Redesigns nicht leisten können, gibt es unter Umständen Ausnahmeregelungen oder Übergangsfristen, um die finanziellen Belastungen zu mildern.”

Ein Foto von Markus Böni - er spricht mit René Jaun und lächelt.

Markus Böni, Geschäftsführer der Stiftung “Zugang für alle”. (Source: zVg)

Es muss also niemand Angst haben?

Markus Böni: Nein. Es ist eine neue Hürde; und Accessibility ist zugegebenermassen kein sexy Thema. Aber Schweizer Behörden und Verwaltungen haben es auch geschafft. Ich finde es jedoch bezeichnend, wie sehr wir beim Thema Barrierefreiheit immer den Nutzen nachweisen müssen. Verglichen mit anderen Themen scheint mir der Überzeugungsaufwand immer viel grösser zu sein. Das Argument, dass beinahe ein Viertel (oder eben noch mehr) der Gesellschaft profitiert, reicht oft nicht.

Maria Timonen: Ich wünsche mir mehr Verständnis dafür, dass Accessibility schrittweise umgesetzt werden kann, anstatt in einem einzigen, teuren Grossprojekt. Mehrere kleinere Anpassungen sind günstiger und wirken weniger beängstigend. Nichtsdestotrotz sehe ich unsere Branche in der Verantwortung, barrierefreie Apps zu entwickeln: Es sind die digitalen Werkzeuge, die Menschen mit und ohne Behinderung in der Hosentasche tragen.

Im Rahmen der Best of Swiss Apps 2024 werden erstmals Apps in der Kategorie Accessibility ausgezeichnet. Angesichts dessen, dass barrierefreie Schweizer Apps noch selten sind: Ist es nicht zu früh für diesen Award?

Maria Timonen: Nein, das finde ich nicht. Denn wir werden nicht nur jene Apps berücksichtigen, die gemäss WCAG als barrierefrei zertifiziert sind. Wir zeichnen auch jene Projekte aus, die das Verständnis für das Thema zeigen und sich Accessibility zu Herzen nehmen. Diesen Einsatz möchten wir sichtbar machen in der Hoffnung, weitere App-Projekte zu diesem Schritt zu ermutigen. Wir sehen die Sonderkategorie als eine weitere Möglichkeit, über Barrierefreiheit zu sprechen und das Thema auf dem Weg in den Mainstream voranzubringen.

Sie sitzen beide in der Jury der Sonderkategorie Accessibility. Welche Erwartungen haben Sie an Einreichungen?

Markus Böni: Wir freuen uns über alle Einreichungen von Teams, die sich ernsthaft mit dem Thema Barrierefreiheit auseinandergesetzt haben, auch wenn ihre App in diesem Bereich noch nicht ganz perfekt ist. Sowohl Auftragnehmer als auch Auftraggeber haben die Chance, sich zu positionieren und zu zeigen, dass sie sich mit Barrierefreiheit auskennen und engagiert auf dem Weg sind. Sie erhalten von uns wertvolles Feedback und erfahren, wo sie derzeit stehen und wie sie sich weiter verbessern können. Ich hoffe sehr, dass möglichst viele Projektteams den Mut haben, ihre App einzureichen – denn jeder Schritt in Richtung Barrierefreiheit ist ein wichtiger Fortschritt”.

Maria Timonen: Konkret könnte ich mir ÖV-Apps als Einreichungen vorstellen. Viele von ihnen wurden in den letzten Jahren in puncto Accessibility verbessert. Das gilt auch für Apps der öffentlichen Hand, etwa Behörden. Aber ich wünsche mir auch Einreichungen aus der Privatwirtschaft.

Ein Foto von Maria Timonen im Gespräch mit Markus Böni.

Maria Timonen, Design Lead & Accessibility Consulting, Bitforge. (Source: zVg) 

 

Im vergangenen Juni haben Sie die Digital Inclusion Academy lanciert. Wie läuft es damit bis jetzt?

Maria Timonen: Unser offizieller Eröffnungsanlass ist am 12. September. Dennoch erhielten wir jetzt schon Kursanfragen. Wir sehen, dass der Bedarf für ein solches Angebot da ist. Besonders oft werden Kurse zu Accessible Design nachgefragt. Wir erhalten aber auch viele Beratungsanfragen zu gesetzlichen Aspekten.

Markus Böni: Es liegt im Kern unseres Stiftungszwecks, das Thema Barrierefreiheit nach aussen zu tragen und das Bewusstsein dafür zu schärfen. Bitforge bringt eine wertvolle Expertise in der Entwicklung und Design barrierefreier Apps mit, die unser Wissen perfekt ergänzt. Während wir die WCAG-Kriterien erklären sowie prüfen und ihre Bedeutung hervorheben können, liefert Bitforge das technische Know-how und die praktischen Ansätze, um diese Anforderungen umzusetzen. Wir freuen uns, dass Bitforge sich so stark engagiert, und heissen natürlich jederzeit weitere Partner willkommen, die dieses Wissen ergänzen und gemeinsam mit uns einen Beitrag zu einer inklusiveren Gesellschaft leisten möchten.

 


Accessibility: Die Sonderkategorie 2024

Die Sonderkategorie Accessibility soll die Entwicklung und den Einsatz zugänglicher digitaler Produkte fördern, um allen Nutzenden den Zugang zu Technologie zu ermöglichen und eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen. 

In Kooperation mit der Allianz Digitale Inklusion Schweiz (ADIS) prämieren die Veranstalter Apps, die sich über eine überdurchschnittliche Zugänglichkeit auszeichnen. Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) bilden die Grundlagen der einzelnen Bewertungskriterien. Getestet wird die reale Nutzbarkeit der Apps unter Berücksichtigung eines breiten Spektrums von Behinderungsformen (visuell, auditiv, motorisch, kognitiv).

Fragen zum Einreichen einer App für die Sonderkategorie Accessibility beantworten die Jurymitglieder gerne. Sie erreichen sie per Mail unter: [email protected]