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„Permanente Stagnation“: Das droht Deutschlands Wirtschaft ohne ernsten Kurswechsel

„Permanente Stagnation“: Das droht Deutschlands Wirtschaft ohne ernsten Kurswechsel

FOCUS online: Herr Halver, die Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft mehren sich. Wohin steuert Deutschlands Konjunktur?

Robert Halver: Wenn wir so weitermachen, steuern wir, wenn wir noch Glück haben, in eine permanente Stagnation. Aber selbst Stillstand ist Rückschritt. Ohne Wachstum gibt es keine Wohlstandsmehrung, sondern nur noch Mangelverwaltung.

Was sind die Gründe dafür?

Halver: Wir haben viel zu wenig Planungssicherheit, viel zu viel Bürokratie. Und wir haben offensichtlich eine Regierung in Berlin, die nicht miteinander, sondern gegeneinander arbeitet. Grün und Gelb vermischen sich nicht, sind wie Öl und Wasser. Daher ist zu befürchten, dass bis zur nächsten Bundestagswahl keine Impulse mehr kommen und wertvolle Zeit für Wirtschaftsreformen vergeht.

Wenn man gleichzeitig sieht, wie viel attraktiver andere Standorte sind, von den Steuern her, der Entbürokratisierung, mit weniger ideologischem Schaum vor dem Mund, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn ein Exodus von Menschen und Unternehmen stattfindet, die früher unseren Wohlstand aufgebaut haben.

Warum läuft es anderswo denn besser? Oft werden die USA als leuchtendes Beispiel einer kraftvollen Konjunktur genannt. Aber gibt es nicht auch Beispiele aus unserer europäischen Nachbarschaft?

Halver: Ja, in Polen. Dort wird angepackt, die wollen wachsen, die tun alles, um ihren Standort attraktiver zu gestalten. Die Wachstumsraten Polens sind super.

Verständlicherweise wollen viele deutsche Firmen, sei es nun Miele, seien es die Wärmepumpenhersteller, die uns eigentlich ein grünes Wirtschaftswunder bescheren sollten, in Polen investieren. Das Land liegt vor der Haustür, man spart sich also große internationale Lieferwege. Von Cottbus oder Frankfurt an der Oder ist man ruckzuck dort. Ein riesiger Vorteil. Im Grunde genommen machen die Polen das, was Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hat: Ärmel hochkrempeln. Aber auch Amerika wird attraktiver.

 

Was machen die Amerikaner anders?

Halver: Der Prozess der Deindustrialisierung, der mit Ronald Reagan einsetzte, wird konsequent umgekehrt. Man holt die Industrie zurück.

Amerika ist dann nicht nur bei High-Tech, sondern sozusagen über die gesamte volkswirtschaftliche Nahrungskette stark. Die positiven Standortfaktoren und Wachstumspotenziale ziehen viele Unternehmen an. Man kennt das Land ohnehin kulturell, die Steuerlast ist geringer und es weht allgemein ein frischer marktwirtschaftlicher Wind, während bei uns gewisse planwirtschaftliche Ambitionen unverkennbar sind. Und dabei zeigt der Blick in die Finanzgeschichte, dass übertriebene staatliche Regulierung Wohlstand kostet.

Daher glaube ich auch, dass China als Standort für internationale Unternehmen weiter an Attraktivität verliert. Tatsächlich sehen wir einen deutlichen Exodus in die Nachbarländer, beispielsweise Indien.

Welche Rolle spielen die EZB und die Geldpolitik? Laut Ökonomen haben die Firmen hierzulande den negativen Effekt der Zinserhöhungen ab 2022 unterschätzt.

Halver: Natürlich tun Zinserhöhungen weh. Aber wenn Inflation nicht bekämpft wird, frisst sie Kaufkraft und damit Wohlstand auf. Was grundsätzlich nie passieren darf, ist, dass die EZB zum ultimativen Löser von Wirtschaftsproblemen wird. Würde sie Staatsfinanzierung betreiben, indem sie die Wünsche einer wahlpopulistischen Fiskalpolitik erfüllt, ohne dass damit ein Wachstumseffekt oder eine Standortverbesserung verbunden ist, gibt es nur eins: immer höhere Inflation. Derzeit gibt es Länder, deren Wohlstand auf diese Weise regelrecht kollabiert ist. Das sollten die Gesundbeter, die der EZB genau diese Rolle geben wollen, bedenken.

An der Stelle muss man über die Schuldenbremse sprechen. Ich würde sie lockern, ja sogar aufgeben, aber nur unter sehr klaren Bedingungen! Das Geld darf dann nur für die Standortverbesserung nach marktwirtschaftlichen Prinzipien ausgegeben werden. Ein No-Go ist es, wenn der Staat planwirtschaftlich bestimmt, für was das Geld ausgegeben wird. Er hat in den letzten Jahren bewiesen, dass er es nicht kann.

Über mangelnde Staatsinvestitionen wird ja ohnehin hitzig gestritten. Wohin sollte das Geld, wenn es denn da wäre, fließen?

Halver: Das Geld käme Verkehrswegen, Bildung, Netzqualität, Energieversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen und Steuersenkungen zugute, um die Deindustrialisierung Deutschlands umzukehren.

So könnte man beispielsweise auch bei Investitionen in neue Technologien für eine bestimmte Zeit Sonderabschreibungen von zehn Prozent pro Jahr zulassen. Investitionen sind der Anfang einer Nahrungskette, an deren Ende mehr Arbeitsplätze, mehr Einkommen, mehr Konsum, mehr Steuereinnahmen und mehr Wohlstand stehen.

Und wir stehen in einem brutalen Wettbewerb: Wenn die ganze Welt mit neuen Schulden – die Inder, die Chinesen, die Amerikaner – ihre Standorte aufhübschen, können wir nicht zuschauen.

Wenn Sie morgen an der Spitze des Bundeswirtschafts- oder Bundesfinanzministeriums sitzen würden, was würden Sie konkret als erste Maßnahme vorantreiben?

Halver: Dazu bräuchte ich eine klare Mehrheit. Ich kann ja nichts beschließen, wenn die Koalitionspartner dagegen sind. Schon mal ein erstes Handicap.

Zweites Handicap: immer mehr wirtschaftsstimulierende Maßnahmen müssen von der EU genehmigt werden. Nicht alle werden in Brüssel Hurra schreien, wenn Deutschland vom wirtschaftlichen Saulus zum Paulus wird. Es gibt viele Eifersüchteleien. Und überhaupt wird in Brüssel auch nicht immer nur marktwirtschaftlich gedacht.

Dennoch brauchen wir eine starke EU, um mit den Großmächte China und Amerika mithalten zu können. Allein schafft das Deutschland nicht.

Und wenn wir sagen, Sie hätten als Minister einfach freie Hand?

Halver: Planungssicherheit wäre meine erste Priorität. Ich würde schnell ein Team zusammenstellen, welches klärt, wo es hakt, was die Probleme sind – und das würde abgeschafft. Und natürlich brauche ich dann ein sehr dickes Fell, um die massive Kritik auszuhalten. Denn bevor es besser wird, tut es zunächst weh.

Und um Schwung reinzubringen, würde ich die schon erwähnten Sonderabschreibungen einführen. Nicht nur punktuell, damit Intel oder andere Firmen nach Deutschland kommen, nein, sondern flächendeckend!

Ebenso braucht es einen Abbau der Bürokratie, die Investitionen so in die Länge zieht, dass Investoren völlig genervt die Reißleine ziehen. Viele der uns Regierenden haben eben nie in der Wirtschaft gearbeitet und wissen nicht, wo der Schuh drückt.

Das wären erste Schritte – wie würden Sie Deutschland längerfristig für mehr Wachstum positionieren?

Halver: Bildung muss als was Positives betrachtet werden, wie das zum Beispiel in Amerika, aber auch in Finnland und den baltischen Staaten der Fall ist. Bildung ist doch der Schlüssel für alles, für Perspektive und persönliches Wohlergehen.

Und natürlich das Leistungsprinzip radikal stärken. Nur, wer etwas einbringt, darf mit dem Wohlstandszug fahren. Es darf nie so weit kommen, dass sich die Bürger fragen, naja, gucke ich mal, was der Staat mir gibt, oder gehe ich arbeiten? Allein schon das Nachdenken darüber düngt den Keim der Zersetzung.

Nicht nur in Amerika oder Großbritannien, sondern auch in vielen europäischen Ländern weiß man: Von nichts kommt nichts.

Malochen oder „soziale Hängematte“ – auch wieder eine der aktuellen Debatte. Aber welche Anreize braucht es, damit wieder mehr Menschen arbeiten? Reallohnzuwächse gab es bis zuletzt und vor allem während der Hochinflationsphase nicht …

Halver: Also zuerst mal, wir haben 2,7 Millionen Arbeitslose. Ich habe kein Verständnis, wenn Reinigungsbetriebe oder Restaurants wegen Arbeitskräftemangel ihre Öffnungszeiten verringern oder ganz schließen müssen.

Aber natürlich ist jeder Mensch auch ein homo oeconomicus. Man verlässt seine Komfortzone nur dann, wenn man sich bewegen muss. Sozialleistungen sind grundsätzlich wichtig. Sie gehören selbstverständlich zu einer humanen Gesellschaft und müssen denjenigen zugutekommen, die diese Hilfe tatsächlich benötigen. Ich bin kein kalter Christ.

Aber für alle anderen gilt, was J.F. Kennedy einmal sagte: Frage dich nicht, was der Staat für dich tun kann, frage dich, was du für den Staat tun kannst. Was kann jeder selbst leisten und wann ist der Staat gefragt. Das Leistungsprinzip muss seinen Platz in einer Gesellschaft haben, weil ansonsten die Gesellschaft insgesamt an Perspektive verliert. Nach dem II. Weltkrieg ist Deutschland genau damit stark geworden.

Und wie trimmen wir die Bundesbürger wieder auf das Leistungsprinzip?

Halver: Ein gewisser Druck fängt schon in der Schule an. Auf Noten zu verzichten, das Sitzenbleiben abzuschaffen oder bei Bundesjugendspielen nur das Motto auszugeben, dabei sein ist alles, führt schon in jungen Jahren auf die falsche Fährte. Müßiggang ist aller Laster Anfang. Dann kann man ja direkt mit Sackhüpfen und Eierlaufen Abitur machen. „Warum zum Buffet gehen, wenn mir das Buffet gebracht wird?“

Dabei vergeuden wir so viele Talente, deren Förderung uns im Konkurrenzkampf mit anderen aufstrebenden Ländern fehlen. Diesen Prozess umzukehren, wird nicht einfach, aber wir haben keine andere Wahl.

Blicken wir mal kurz auf die Börsen – dort rangiert der Leitindex Dax weiter auf Rekordniveau. Wie erklärt sich das, im Hinblick auf Deutschlands Konjunkturschwäche?

Halver: Es gibt eine Diskrepanz zwischen der Wirtschaftspolitik hier und den Börsenkursen. Diese sind hoch, da die Unternehmen nicht auf Deutschland angewiesen sind. 80 Prozent der Umsätze bei den Dax-Konzernen werden außerhalb Deutschlands gemacht. Man kann sagen: „Andere Länder haben schönere Standorte.“

Das zeigt sich mittlerweile auch im Mittelstand, der immer stärker wie das junge Reh im Wald dort hinspringt, wo es was Ordentliches zu fressen gibt. Das ist der Punkt, warum es den börsennotierten Unternehmen gut geht. Und solange sie in Deutschland auf dem Kurszettel stehen, stärken sie deutsche Aktien, gerade weil sie ihre Gewinne im Ausland erzielen.

Also bleiben deutsche Aktien eine gute Wahl, trotz der hiesigen Wirtschaftsprobleme?

Halver: Ja, wir haben bei Werten im industriellen Bereich immer noch großartiges Know-How, dass weltweit gebraucht wird, nicht zuletzt in der zweiten und dritten Reihe. Und wenn sich Amerika reindustrialisiert, seine Infrastruktur verbessert und das Gleiche vielfach in den Schwellenländern durchgeführt wird, profitiert davon auch die deutsche Industriegüterkultur, nicht zuletzt an den Börsen.

Dabei helfen auch die weltweiten Zinssenkungen, die die konjunkturellen Auftriebskräfte unterstützen. Im Übrigen sind die kleineren Werte sehr günstig bewertet. Wenn, wie zu erwarten, die Weltkonjunktur wieder Tritt fasst, kommt ihnen das zugute. Überhaupt, Zinssenkungen machen die größte Alternativanlageklasse zu Aktien, also Zinspapiere, immer unattraktiver.

Was würden Sie jungen Menschen raten, die ja noch am stärksten spüren dürften, wenn unsere Wirtschaftsprobleme nicht angegangen werden?

Halver: Bildung, Bildung, Bildung und sich laufend weiter qualifizieren. Denn wir wissen nicht, welche Arbeitsplätze beispielsweise durch KI verloren gehen. Selbst aktuell gefragte Fachkräfte wie Informatiker werden nicht verschont werden.

Auch im Ausland tätig sein, vergrößert den Horizont. Ich hoffe aber, dass sie wieder zurückkommen, denn wir brauchen diese Leute hier. Und jetzt sind wir wieder bei den deutschen Standortbedingungen. Denn es gehen vor allem die Guten, die ihre Fähigkeiten umsetzen wollen.

Im Übrigen widerspreche ich den Vorurteilen, dass die berühmte Generation Z angeblich so stinkefaul ist. Da gibt es viele Leute, die anpacken wollen, und die müssen wir kriegen, fördern, bilden, und hierbehalten. Politiker, macht endlich euren Job!

Wie bei den Firmen muss man dann Anreize zum Bleiben schaffen …

Halver: Neben Bildung und wirtschaftlichen Perspektiven müssen wir auch an die Altersvorsorge ran. Wir brauchen eine Vorsorge, die Aktien-gestützt ist. Arbeitnehmer müssen aus dem Steuerbrutto Teile investieren dürfen, in Aktien-Sparpläne, die auch bei späterer Auszahlung nicht besteuert werden.

Mit der Aktien-Rente geht es ja ein Stück weit in diese Richtung.

Halver: Ich meine nicht die „Aktien-Rente“. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein, reine Symbolpolitik. Länder wie Schweden, die überhaupt nicht für Marktradikalität oder Turbokapitalismus stehen, machen das längst so, wie ich es eben skizziert habe. Denen sollten wir nachfolgen.

Ich sehe mit Freude, dass sich immer mehr junge Leute für den Aktienmarkt interessieren. Die müssen wir kriegen und dürfen nicht sagen: Schuftet euch kaputt bis 75, damit Menschen, wie auch ein Robert Halver, eine auskömmliche Rente haben. Und was an Vermögen trotz Krisen zusammenkommt, weiß jeder der lange in Aktien angespart hat. Wieso lässt die Politik diese großartigen Chancen zur Altersvorsorge „links“ liegen?

Wenn wir das alles hinkriegen, dann haben wir gute Chancen, den Niedergang aufzuhalten. Mit einer Koalition aus drei massiv unterschiedlichen Parteien scheint dies offensichtlich nicht zu gelingen.

Was wünschen Sie sich denn von der Politik?

Halver: Auch nach der nächsten Bundestagswahl wird es schwer sein, eine wirtschaftsfreundliche Regierung zu bilden. Aber wir haben keine andere Wahl, die Probleme anzupacken. Und dann bin ich mir sicher, dass die Ränder abschmelzen.

Bei dem, was wir in den letzten Tagen, Wochen und Monaten erlebt haben, dürfte eigentlich kein Politiker mehr ruhig schlafen. Die müssten um zwei Uhr nachts schweißgebadet aufwachen und sich fragen: Was müssen wir machen, um den Karren wieder flottzukriegen.

Ein bedeutender deutscher Politiker hat einmal gesagt: Erst das Land, dann die Partei, dann die Person. Das sollte die Maxime eines jeden Politikers sein.