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Olivia Laings Gedanken zum Körper, das Buch „Everybody“ – „Der Kampf darf nicht aufhören“

Olivia Laings Gedanken zum Körper, das Buch „Everybody“ – „Der Kampf darf nicht aufhören“

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Olivia Laings Gedanken zum Körper, das Buch „Everybody“ – „Der Kampf darf nicht aufhören“
„Es ist wirklich wichtig zu berücksichtigen, aus welchem Körper ein Mensch spricht“, sagt Olivia Laing. © Anna Huix

Olivia Laing über ihr Buch „Everybody“, das davon erzählt, wie Menschen in ihrem Körper und unter gesellschaftlichen Zwängen leben.

Olivia Laing, ich war fasziniert von Ihrer Auswahl von Persönlichkeiten, über die Sie in „Everybody“ schreiben, deren Werk Sie betrachten und deren körperliche Verfasstheit ebenso: Von Andrea Dworkin über Susan Sontag bis Malcolm X, und ins Zentrum Ihrer Betrachtungen stellen Sie Wilhelm Reich. Warum diese bekannten Personen, warum Reich? Und warum so neutral: Sie fällen keine Urteile.

Ich wollte Menschen finden, deren Arbeit und deren Leben sich kreuzten mit Bereichen körperlicher Erfahrung, für die ich mich interessierte. Das schließt Krankheit ein, Sexualität ein, schließt Protest und Widerstand ein. Ich hatte zu Beginn des Schreibens nicht die Absicht, Reich so eine prominente Rolle zu geben, aber er kam immer wieder zurück zu mir, weil er so vieles abdeckte. Ich bin außerdem nicht interessiert an der gegenwärtigen kulturellen Faszination dafür, Urteile zu fällen über Menschen. Ich nehme daran nicht teil. An diesem Buch hat mich besonders interessiert, auf Menschen zu schauen, die keine Helden waren und keine Heiligen. Die aber mutig waren, aufklären und darüber sprechen wollten, wie ihre Leben und das Leben anderer Menschen schwer gemacht wurde durch die gesellschaftlichen Strukturen und Repressionen um sie herum. Besonders auch, wie sie selbst beschädigt wurden durch diese Arbeit, wie der Aktivist beschädigt wird durch die Strukturen, denen er versucht zu widerstehen, durch die Strafen, die er erhält. Es wäre mir naiv erschienen und keineswegs vorurteilsfrei, diese Leute zu beurteilen zu versuchen. Ich möchte vielmehr zeigen, wie dieser Kreislauf funktioniert. Und Reich ist so prominent darin, weil sein Leben so dramatisch war, weil die Strafe, die er erhielt, so enorm war. Er war zu Grausamkeit fähig, er war fähig, seinen eigenen Erwartungen nicht zu entsprechen. Aber er war auch jemand, der uns außergewöhnlich befreiende Ideen hinterließ, die wir noch anzapfen können. Ich glaube, wir sind reif genug, uns herauszupicken, was davon uns nützt, statt dass wir das Handeln von Menschen verurteilen.

Sie schreiben dabei auch über Menschen – wiederum Reich, auch Malcolm X -, die in doppeltem Sinn eingesperrt sind, in ihrem Körper, aber auch im Gefängnis.

Ja, „Gefängnis“ wurde durch das Buch hindurch zu einer richtigen Metapher. Wir können unsere Körper nicht verlassen, außer auf dem einen Weg, der der Tod ist. Und oft kann die Erfahrung, in einem Körper zu sein, unerträglich sein, aus unterschiedlichen Gründen. Darüber wollte ich nachdenken, aber ich wollte auch darüber nachdenken, wie der Körper selbst zu einer Kraft werden kann, die die Welt zu einem größeren und großzügigeren Ort macht. Man denke an direct action, man denke an die Arbeit der Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts. Und wie sie versuchten, das Gefängnis des Körpers einzureißen. Aber auch daran, wie viele Leute aus diesen Befreiungsbewegungen in echten Gefängnissen landeten.

Sie kommen nicht zu optimistischen Schlüssen, Sie schreiben, dass viele der Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, viele Erfolge dieser Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegungen heute bedroht sind.

Ich glaube, in vielen Fällen ist das so. Als ich angefangen habe, dieses Buch zu schreiben, war ich verzweifelt. Am Ende war die Verzweiflung nicht so stark. Es gibt keinen Punkt, an dem die Bewegungen gewonnen haben werden, für immer. Das wird nicht geschehen, das ist nichts, was wir erreichen werden. Was nötig ist, ist ein fortwährender Kampf, wir sollten uns daran gewöhnen. Dieser Kampf ist in unserer Zeit wirklich notwendig und wir sollten willens sein, daran teilzunehmen. Die Menschen, über die ich schreibe, hatten keine naive Hoffnung, sie waren bewährte Aktivisten, sie haben verstanden, dass es um eine permanente Schlacht geht. Dinge bewegen sich rückwärts, wir sehen, wie auf der Welt das Recht auf Abtreibung weggenommen wird, wir sehen, wie Gesetzgebungen zu Sexualität grausamer und einschränkender werden. Wir müssen verstehen, dass der Kampf nicht aufhören darf.

Trumps Vize-Kandidat J. D. Vance zum Beispiel spricht abwertend über „childless cat ladies“, Kinderlosigkeit als Schande.

Es ist wieder wie in den 1950ern.

Ich glaube, Ihre Auswahl von Persönlichkeiten hat mich auch deswegen so interessiert, weil jemand wie die Essayistin Susan Sontag immer als Intellektuelle wahrgenommen wurde und wird und nicht als jemand, der auch seinem krebskranken Körper unterworfen war.

Absolut. Und als ich das Buch beendete hatte, gab ich es einem Freund und er sagte: Du musst Freud einen Körper geben. Und ich bin zurückgegangen, um über einen Körper nachzudenken, der am Ende seines Lebens eine Menge Schmerzen gehabt haben muss. Und über die Art seines Schreibens, wie etwa „Civilization and Its Discontents“ („Das Unbehagen in der Kultur“, d. Red.), über diese wirklich dunklen und schmerzhaften Bücher. Sie ringen mit der Geschichte der Zeit, sie ringen mit dem, was in Deutschland und Österreich passiert, aber auch mit einem Leben in einem Körper, der dem Tod gegenübersteht, der in Agonie ist. Und ich glaube, den Körper als Aspekt einzubringen, das gibt dem Denken über das Werk so viel mehr Tiefe. Es ist wirklich wichtig zu berücksichtigen, aus welchem Körper ein Mensch spricht.

Sie schreiben auch über sich, über Ihre Erfahrungen als junge Aktivistin, die zu Demonstrationen ging, die einst sehr intensiv an Protestbewegungen teilnahm.

Zur Person:

Olivia Laing , geboren 1977 in Buckinghamshire, England, hat zahlreiche Sachbücher geschrieben, Biografien, Essays, wie auch einige Romane.

Laings erstes Buch „To the River“ (dt. „Zum Fluss. Eine Reise unter die Oberfläche“, btb, 2021) ist 2011 erschienen und folgt mit zahlreichen thematischen Mäandern dem Fluss Ouse. Das Buch war gleich auf der Shortlist zum Ondaatje Prize. Ein Jahr später folgte „The Trip To Echo Spring“ über Schriftsteller und das Trinken. Ausgezeichnet wurde auch der Roman „Crudo“.

Als Trilogie versteht Laing das 2016 erschienene „The Lonely City: Adventures in the Art of Being Alone“ (dt. „Die einsame Stadt“, btb, 2023), das gerade eben auf Deutsch erschienene „Everybody. Warum unser Körper politisch ist“ und „The Garden Against Time“, das im kommenden Jahr ebenfalls in Übersetzung erscheinen soll. Letzteres ist in Großbritannien ein Bestseller.

Olivia Laing nutzt seit einiger Zeit die genderneutrale Pronomen they/them.

Olivia Laing: Everybody. Warum unser Körper politisch ist. A. d. Engl. v. Thomas Mohr. btb 2024. 384 S., 26 Euro.

Ich nehme immer noch an Märschen teil, es gibt vieles, wegen dem man auf die Straße gehen kann. Aber in der Weise wie früher, so physisch involviert, das kann ich mir nicht mehr vorstellen. Denn es war sehr anstrengend, draußen zu leben, den Körper so dem Risiko auszusetzen. Aber ich sehe eine Kontinuität zwischen der Art von Aktivismus, den ich betrieben habe, und der Art meines Schreibens – es ist mit demselben Ziel. Dem Ziel, Geschichte, Information zu liefern besonders für junge Leser, die nichts wissen über die Vergangenheit, die den Kontext der Dinge nicht verstehen, die rund um sie passieren.

Ein Rezensent beschrieb Ihr Buch als „ausgedehntes Gespräch“ mit dem Leser, der Leserin, so habe ich es auch empfunden. Werden Sie das Gespräch fortsetzen?

Nein. Aber es ist das zweite Buch in einer Trilogie, mit „The Lonely City“ und nun „The Garden Against Time“. Wie ich über sie denke: „The Lonely City“ handelt von den Erfahrungen des 21. Jahrhunderts, dem Fegefeuer von Entfremdung und Isolation, „Everybody“ beschäftigt sich damit, wie man im Körper lebt, „The Garden Against Time“, das nächstes Jahr auf Deutsch erscheint, handelt vom Paradies, von möglichen Utopien. Diese drei Bücher funktionieren zusammen, jetzt bin ich am Ende dieses Zyklus. Ich bin jedoch immer noch fasziniert von Körpern und körperlichen Erfahrungen, so dass ich denke, es wird immer ein Thema meiner Arbeit sein.

Warum, glauben Sie, ist die sogenannte Identitätspolitik derzeit so ein großes Ding?

Ich denke, es ist vielleicht ein notwendiger Kreislauf. Menschen, die noch nicht dabei waren, als Identitäten verhandelt wurden, wollen nun leidenschaftlich beteiligt sein. Was wir aber wirklich brauchen, ist Solidarität und die Fähigkeit, über Unterschiede hinweg miteinander sprechen zu können. Für mich ist es in Ordnung, über Identität zu sprechen. Aber es gibt auch Momente, in denen man es loslassen können muss, offen sein sollte für die Arten, auf die Menschen im Fluss sind. Denn wir alle verändern uns. Es interessiert mich, auf diese Weise auf unsere Leben zu blicken, über Gemeinschaftlichkeit mit Fremden nachzudenken. Ich bin zutiefst gegen Stammeszugehörigkeiten.

Welche Rolle spielen hier die sozialen Medien? Einerseits können Menschen dort teilnehmen und doch verborgen bleiben, auf der anderen zeigen etwa Influencerinnen glatte, perfekte Oberflächen.

Meine Gefühle den sozialen Medien gegenüber haben sich sehr verändert in den vergangenen zehn Jahren. Als ich „The Lonely City“ geschrieben habe, dachte ich noch, das seien positive Orte, in denen man in Kontakt treten kann. Jetzt denke ich, ein Grund, warum sie so gefährlich sind, ist, dass sie körperlos sind, dass sie keine Körper einbeziehen. Wie Sie sagen, präsentieren sie perfekte Versionen von Körpern. Und Menschen sprechen dort miteinander, wie sie es nie täten, wenn sie zwei Körper in einem Raum wären – wegen des sozialen Umfelds und der Vorsicht, die herrscht, wenn wir mit einem anderen Menschen zusammen sind. Wir sehen ein Gesicht und wir sehen, welche Wirkung unsere Worte auf dieses Gesicht haben. Ich bin also skeptischer, als ich es war, was die sozialen Medien betrifft. Sie fördern das Verlangen nach diesen unerreichbaren Körpern, besonders bei jungen Leuten seit der Pandemie, als sie so viel Zeit vor dem Computer verbracht haben. Sie wollen eine unangreifbare, perfekte Hülle. Gleichzeitig sind diese jungen Leute voller Zorn, Angst und Verzweiflung. Das wollen sie nicht zeigen, so ziehen sie Masken an, um ihre Gefühle verbergen zu können.

Glauben Sie, dass das auch damit zu tun hat, dass Körper durch die Klimakatastrophe, durch Fluten und Stürme, immer mehr unter Druck geraten?

Ja, das erleben wir, besonders seit der Pandemie. Menschen hatten vorher ihre eigene Zerbrechlichkeit noch nicht so erfahren oder mussten sie jedenfalls noch nicht so berücksichtigen. Sie sind nun mehr davon besessen, mächtig und unangreifbar zu werden, statt dass sie ihre Zerbrechlichkeit akzeptieren. Das ist sehr traurig.

In Ihrem Buch kommt die Klimakastrophe mehrfach vor. Sind Sie heute, ein paar Jahre später, noch besorgter?

Ich bin zutiefst besorgt. Aber die Erfahrung, „The Garden Against Time“ zu schreiben, das sich sehr mit der Klimakrise beschäftigt, hat mich ein wenig optimistischer gemacht. Es gibt viele, viele Dinge, die wir in Bezug auf die Klimakrise tun können für das Leben auf unserem Planeten, das Leben unserer Spezies. Ich fühle jetzt eine gewisse Balance zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Keine naive Hoffnung, aber die Entschlossenheit weiterzumachen, zu versuchen, Dinge zu verbessern, zu kommunizieren über die Möglichkeit einer anderen und besseren Welt.

Zur Person:

Olivia Laing , geboren 1977 in Buckinghamshire, England, hat zahlreiche Sachbücher geschrieben, Biografien, Essays, wie auch einige Romane.

Laings erstes Buch „To the River“ (dt. „Zum Fluss. Eine Reise unter die Oberfläche“, btb, 2021) ist 2011 erschienen und folgt mit zahlreichen thematischen Mäandern dem Fluss Ouse. Das Buch war gleich auf der Shortlist zum Ondaatje Prize. Ein Jahr später folgte „The Trip To Echo Spring“ über Schriftsteller und das Trinken. Ausgezeichnet wurde auch der Roman „Crudo“.

Als Trilogie versteht Laing das 2016 erschienene „The Lonely City: Adventures in the Art of Being Alone“ (dt. „Die einsame Stadt“, btb, 2023), das gerade eben auf Deutsch erschienene „Everybody. Warum unser Körper politisch ist“ und „The Garden Against Time“, das im kommenden Jahr ebenfalls in Übersetzung erscheinen soll. Letzteres ist in Großbritannien ein Bestseller.

Olivia Laing nutzt seit einiger Zeit die genderneutrale Pronomen they/them.

Olivia Laing: Everybody. Warum unser Körper politisch ist. A. d. Engl. v. Thomas Mohr. btb 2024. 384 S., 26 Euro.

„ Es ist wirklich wichtig zu berücksichtigen, aus welchem Körper ein Mensch spricht“, sagt Olivia Laing. Anna Huix
„ Es ist wirklich wichtig zu berücksichtigen, aus welchem Körper ein Mensch spricht“, sagt Olivia Laing. Anna Huix © Anna Huix