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Robert De Niro hat sein Vorbild in einer Legende

Robert De Niro hat sein Vorbild in einer Legende

Jede künstlerische Darstellung trifft auf das Problem, nur Darstellung zu sein: Fiktion und Schein statt Wirklichkeit und Wahrheit. Die Repräsentation versucht, den Schein durch Wahrscheinlichkeit zu verhehlen, um eine Wirkung von Präsenz zu erzeugen, die aber unvermeidlich vom Schein des Wahren durchzogen ist. Die Frage ist allerdings, ob es scheinlose, authentische Wirklichkeit und reine Wahrheit überhaupt gibt.

Im Theater und Film ist eine Technik, Präsenz zu bewirken, das method acting. Die im Actors Studio in New York gelehrte, von Lee Strasberg – in Anlehnung an Ideen von Konstantin Stanislawski in Moskau – entwickelte Methode verlangt vom Schauspieler, sich dergestalt in die Rolle einzufühlen und einzuleben, dass der Unterschied zwischen Rolle und Rollenträger nahezu aufgehoben wird; der Schauspieler ist dann tendenziell wirklich das, was er spielt.

Für „Taxi Driver“ hat Robert De Niro eine Zeit als Taxifahrer gearbeitet. Und für „Raging Bull“, den Film über den Boxer Jake LaMotta, hat er nicht nur fünfzehn Pfund an Gewicht zugenommen, um das Körpergefühl eines Mittelgewichtsboxers zu bekommen, sondern für mehr als ein Jahr Boxtraining bei LaMotta selbst genommen und so gut geboxt, dass er professionelle Kämpfe gewann.

In einer Kampfszene des Films zeigt Scorsese ihn, nachdem er viel eingesteckt hat, als Schmerzensmann: in den Seilen des Rings wie am Kreuz hängend, mit Blut bis auf die Beine gespritzt. Die Sequenz stellt einen Moment aus einem historischen Kampf LaMottas von 1951 dar; sie erinnert zudem an eine Tiefenstruktur des method acting im christlichen Legendarium.

Die Tragödie ist ein Schwellenphänomen

Die stärkste Gestalt der Durchdringung von Leben und Rolle, Welt und Theater wird durch die Legende des Märtyrers Genesius vorgegeben. Sie ist im Barock vielfach auf der Bühne dargestellt worden. Die bedeutendste Version stammt von Lope de Vega. Der spanische Titel „Lo fingido verdadero“ (1609) schillert semantisch, weil die Differenz von grammatischem Substantiv und Adjektiv ununterscheidbar ist; im Deutschen muss man sich entscheiden: „Das wahrhaftige Fingierte“ oder „Das fingierte Wahrhaftige“. Eine Generation später hat Jean Rotrou mit „Le véritable Saint Genest, comédien et martyr“ (1647) das Thema für die französische Bühne aufgegriffen.

Der heilige Genesius ist der Schutzheilige der Schauspieler. Er war ein berühmter Bühnenkünstler zur Zeit der Herrschaft des Kaisers Diokletian im spätantiken Rom; das ist die Zeit der Christenverfolgungen, kurz bevor das Christentum im vierten Jahrhundert Staatsreligion in Rom wurde. Eine seiner Paraderollen, die parodistische Darstellung der Sekte der Christen, soll er bei einer höfischen Feier geben. Das Stück, das er spielt, handelt von einem römischen Soldaten, der vom unerbittlichen Christenverfolger selbst zum Christen wird und als Märtyrer stirbt. Die komische Darstellung soll das als Blödsinn erscheinen lassen.

Robert De Niro in Martin Scorseses „Taxi Driver“ (1976)
Robert De Niro in Martin Scorseses „Taxi Driver“ (1976)picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Die Pointe der Legende und der Handlung des Stücks ist, dass Genesius bei der verspottenden Darstellung des zum Christentum bekehrten Verfolgers selbst Christ, also auch vom Verfolger zum Gläubigen wird. Das zugrunde liegende Konversionsmuster ist die Bekehrung des Saulus/Paulus. Diokletian fordert ihn auf, als guter Römer die römischen Götter zu verehren, aber Genesius weigert sich, dem Christentum abzuschwören. Er bleibt auch unter der – in den ba­rocken Stücken drastisch geschilderten – Folter standhaft und erleidet den Märtyrertod. Deshalb wird er zum Schutzheiligen der Schauspieler.

Eine solche Vermischung von Profanem und Sakralem ist ein Merkmal des Theaters seit seinem Anfang im antiken Griechenland. Es hat sich im Umfeld einer religiösen Feier entwickelt. Die Tragödie ist ein Schwellenphänomen an der Grenze von Fanum und Profanum. Sie war ein Teil der Dionysien, der liturgisch-rituellen Feiern zu Ehren des Gottes Dionysos. Die Verwandtschaft von Ritual und Theater, die theatralische Seite von Ritual und Liturgie sowie die entsprechende Frage nach der rituellen, liturgischen Seite des Theaters sind konstitutiv für das Religiöse wie das Dramatische. Die Genesius-Legende entfaltet ihren Gehalt.

Beim Jüngsten Gericht am Ende der Zeit

Ein guter Teil der beiden Stücke von Lope de Vega und Jean Rotrou besteht darin, auf der Bühne des Theaters zu zeigen, wie ein Theaterstück inszeniert wird. Die Schauspieler reden bei den Proben über das Bühnenbild und vor allem darüber, wie eine Rolle zu spielen sei, um die gewünschte Wirkung zu haben. Die Wirklichkeit des Theaters wird als inszenierter Schein erkennbar.

Das Theater ist der Ort, an dem Sein und Schein ineinander übergehen, weil die Schauspieler wirkliche Menschen sind, die eine fiktive Rolle spielen. Lope de Vega hat berichtet, dass bisweilen die Zuschauer – wie der Romanleser Don Quijote zwischen Fiktion und Wirklichkeit – zwischen Rolle und Schauspieler nicht unterschieden und den „Guten“ des Stücks am nächsten Tag zum Essen einluden, während sie dem „Bösewicht“ nicht einmal ein Brot verkaufen wollten.

Diese Verwischung der Grenze von Bühnenwirklichkeit und Lebenswirklichkeit hat zu einer Denkfigur geführt, der zufolge die ganze Welt ein Theater ist. Die Allegorie des Welttheaters ist seit der Antike geläufig, sie wird im Barock zu einer Figur, die dem Leben eine elementare Deutung gibt. Als 1599 in London das Globe Theatre eröffnet wurde, stand über dem Eingang: „Totus mundus agit histrionem“ – die ganze Welt spielt Theater. William Shakespeare greift das Motto in dem im selben Jahr aufgeführten „As you like it“ auf und führt es aus. „All the world’s a stage, / And all the men and women merely players: / They have their exits and their entrances“; der Tod ist der letzte Abgang.

„Totus mundus agit histrionem“ – die ganze Welt spielt Theater; William Shakespeare greift das Motto in seinem Stück „As you like it“ auf.
„Totus mundus agit histrionem“ – die ganze Welt spielt Theater; William Shakespeare greift das Motto in seinem Stück „As you like it“ auf.Lucas Bäuml

In der Antike hatte Seneca in „Epistulae morales ad Lucilium“ eine Deutung der Figur des Welttheaters gegeben, die für die Folgezeit maßgebend geworden ist. Er legt sie im Zusammenhang einer Diskussion des sittlich Guten moralisch aus. „Wie im Theater, so im Leben: Nicht wie lange, sondern wie gut es ausgeführt wird, ist von Bedeutung.“ In der frühen Neuzeit ist die allegorische Figuration des Welttheaters in ganz Europa ein Topos, der das Lebensgefühl des Barocks konzeptualisiert. Eine Generation nach Shakespeare entfaltet ihn Pedro Calderón de la Barca, indem er ihn zum Inhalt und Gehalt eines ganzen Theaterstücks macht: „Das große Welttheater“ (1635). Die Welt ist eine Bühne, das Leben ein Stück, das auf dieser Bühne aufgeführt wird, die Menschen sind die Schauspieler, die darin eine bestimmte Rolle spielen. Wie das Stück mit dem ersten Akt beginnt und mit dem letzten Akt endet, so das Leben mit der Geburt und dem Tod. Und wie das Theaterstück am Ende des Spiels kritisch beurteilt wird, so das Leben der Menschen beim Jüngsten Gericht am Ende der Zeit.

Sein und Schein, Fiktion und Wirklichkeit

Die Pointe dieser Konzeption ist aber nicht eine Entwertung des Lebens, das nur Theater, Fiktion und Schein wäre. Wenn das Leben ein Theaterstück ist, die Menschen ihre Rollen sind und der Schein der Bühne das Sein des Lebens ist, bedeutet dies gerade umgekehrt, dass der Schein seine eigene Wirklichkeit hat; auch die Werke des Scheins sind wahrhaft Werke und werden entsprechend als wirkliche Werke beurteilt. Calderón hat diese Interferenz von Sein und Schein immer wieder durchgespielt. Sein bedeutendstes Stück, „Das Leben ist Traum“ von 1636, zeigt sie als eine existenzielle und politische Parabel des menschlichen Lebens.

Die Genesius-Legende macht diese Konzeption erkennbar. Eine Szene im Stück von Lope de Vega zeigt Genesius allein bei der Probe; er merkt, wie die Rolle ihn zunehmend überkommt und in ihm zur Wirklichkeit wird, sodass er den römischen Soldaten nicht mehr einfach darstellt, sondern sich in ihn verwandelt. Als das Stück dann aufgeführt wird, passiert ihm in der Szene, in der er die Bekehrung des Soldaten zum Christentum spielen soll, dass er selbst Christ wird.

Die Zuschauer finden, er habe noch nie so gut gespielt; sie nehmen für scheinhafte Darstellung, was tatsächlich wahrhafte Wirklichkeit ist. Das Abgründige der Szene besteht darin, dass die fiktive Rolle den Schauspieler zur Konversion führt; die scheinhafte Wirklichkeit schlägt um in wahrhafte Wirklichkeit: in wahrhafte Fiktion oder ­fiktive Wahrheit. Damit ist die Grenze zwischen Sein und Schein nicht aufgehoben. Sie wird dergestalt durchlässig, dass die elementare Ver­wobenheit von Sein und Schein für die Zuschauer erkennbar wird.

Dieser Komplex wird in der Genesius-Legende zudem mit der Frage der religiösen Wahrheit verbunden; das Rollenspiel wird ins Grundsätzliche ausgeweitet. Das Theater ist nicht der nach­ahmende Schein des Lebens, das Leben selbst ist Rollenspiel, bei dem es darauf ankommt, die Rolle richtig zu spielen. Und dieser Gegensatz von Richtig und Falsch wird im Theater des Lebens durch den religiösen Kontext zur grundlegenden Unterscheidung von Gut und Böse als Entscheidung zwischen der falschen und der wahrhaften Religion. Das scheinhafte Theater ist der Ort, an dem es um das wahrhafte Leben geht. Genesius stellt klar, dass er nicht mehr eine fiktive Rolle spielt; er stellt nicht dar, seine Handlung ist schiere Performanz. Er ist der Akteur seiner selbst, das Spiel ist Wahrheit geworden – das bezeugt sein Martyrium. Stärker sind Sein und Schein, Fiktion und Wirklichkeit nicht anzunähern, denn für die Menschen des Barocks sind die Fragen der Religion so entscheidend, dass sie ihretwegen allenthalben Kriege geführt haben.

De Niro bleibt De Niro

Gegen diese Konzeption des Theaters und des Rollenspiels aus dem Geist der Genesius-Legende hat Denis Diderot in „Das Paradox des Schauspielers“ (1777) eine Konzeption der Darstellung aus dem Geist der Aufklärung entwickelt. Nicht die Präsenz des Rollenbilds im Schauspieler, sondern die vollendete Repräsentation macht das gute Spiel aus. Kein Schauspieler kann garantieren, dass er die zu seiner Rolle gehörenden Gefühle genau im Moment der Aufführung haben wird. Deshalb muss er ihre Verfassung so genau studieren, dass er sie jederzeit nachahmen kann. Er muss die Rolle nicht verkörpern, die Gefühle nicht wirklich haben, sondern sie so darstellen, dass sie den Zuschauern als wirklich erscheinen. Zwei Jahrhunderte später hat Bertolt Brecht mit der Konzeption des epischen Theaters und des Verfremdungseffekts, der die Illusion durchbricht, dem Theater endgültig die Aura von Performanz und Präsenz als Medium von Wirklichkeit und Wahrheit ausgetrieben.

Parallel dazu knüpft das method acting an die Tradition der Genesius-Legende an. Stanislawski und Strasberg haben sich beide explizit mit Diderots Paradox auseinandergesetzt. Es ist nicht leicht, Kriterien für eine Beurteilung der beiden Methoden zu entwickeln. Wenn das Theater ein Modell des Lebens, das Rollenspiel eines der Person ist, kann eine Überlegung zu ihren Konsequenzen für die Konzeption von Persönlichkeit hilfreich sein.

Das Paradox des Schauspielers impliziert eine technische Beziehung zwischen Rollenträger und Rolle; er spielt mechanisch, ohne innere Beteiligung. Von Charlie Chaplin ist überliefert, dass er Szenen Dutzende Male proben ließ, um die ­Darstellung automatisch werden zu lassen. Im method acting verkörpert der Schauspieler die Rolle, er ist bis zu einem gewissen Grad das Rollenbild – und doch auch zugleich der bestimmte Schauspieler. Robert De Niro war der Taxifahrer, der Mittelgewichtsboxer und viele andere Rollen – und doch auch zugleich immer unverkennbar Robert De Niro.

In Lope de Vegas Drama wird die Genesius-Handlung von zwei weiteren Handlungssträngen orchestriert. Zum einen geht es um die Thron­besteigung Diokletians, der vom einfachen Soldaten zum Caesar wird. Zum anderen geht es um eine Liebesgeschichte. Beides wird als Verwandlung konzeptualisiert. Der Liebende wird ein anderer, weil das Bild der Geliebten sich in seine Seele einprägt und die Persönlichkeit neu kon­figuriert. Der Herrscher wird – gemäß der mittelalterlichen Konzeption von den zwei Körpern des Königs – als der Einzelne, der er ist, durch das Königtum neu konfiguriert. Entsprechend verwandelt sich der Schauspieler und wird durch das Rollenbild neu konfiguriert. Die theologische Tiefenstruktur dieser Konzeptionen ist die Lehre von den zwei Naturen – der menschlichen und der göttlichen – in Jesus Christus.

Die zwei Körper des Schauspielers werden im Rahmen der Allegorie des Welttheaters zur Gestalt dieser Interferenz zwischen dem Einzelnen und seiner Rolle und so zum Muster einer anspruchsvollen Persönlichkeit. Wenn De Niro als wirklicher Boxer die Rolle LaMottas spielt, ist sie nicht nur scheinhaftes, sondern wahrhaftes Spiel, nicht aber als haltlose Identifikation, sondern als methodisch gehegte Verkörperung, denn De Niro bleibt De Niro.

Eine solche Konzeption von Rolle schützt vor den Illusionen einer ursprünglichen Identität und authentischen Persönlichkeit. Das Wort Person entstammt dem Lateinischen: „persona“. Es bedeutet Maske und Rolle. Dem entspricht die Einsicht, dass die Persönlichkeit immer schon eine Rolle ist. Die Klischees des Authentischen und Identischen verhehlen, dass hinter der Maske der Rolle nichts ist als die leere Hohlform der Person.

Vor siebzig Jahren hat Jean-Paul Sartre einen langen Essay über den Romancier und Dramatiker Jean Genet veröffentlicht. Sein leitendes Motiv ist die Verwandlung im Leben und im Werk Genets. Der Titel zitiert Rotrous Stück „Saint Genet – Komödiant und Märtyrer“. Sartre versucht zu erkunden, was die Konfiguration der Gene­sius-Legende für die Gegenwart der Moderne bedeuten kann. Aber das wäre eine weitere Geschichte.

Gerhard Poppenberg lehrte bis zur Emeritierung Romanistik in Heidelberg.