13 Kulturorte in der Schweizer Provinz

In den Städten gehören Kulturbetriebe zum urbanen Inventar. Immer etwas los in Zürich, Bern, Basel, Winterthur, St. Gallen. Eine Zumutung, wenn ein Kino, ein Konzertlokal, ein Buch- oder Plattenladen nicht in Schlenderdistanz zum Lieblingscafé liegt, von dem wir erwarten, dass die Baristi nicht nur etwas von Siebträgermaschinen verstehen, sondern auch etwas von Musik. Verirren wir uns aufs Land oder auch nur in die Agglomeration, wird uns mulmig zumute. Gibt es hier überhaupt noch so etwas wie Kultur? Ja, gibt es. Zum Beispiel hier:

Südpol, Kriens

Nach seiner Expedition resümierte der Polarforscher Roald Amundsen, dass er davon geträumt habe, den Nordpol zu erreichen. Und nun stehe er am Südpol. Tja, so kann’s auch dem Zürcher ergehen, der sich in Luzern ein wenig umsehen möchte: Plötzlich steht er vor dem «Südpol». So heisst das ehemalige Schlachthaus, das im Süden der Stadt liegt und eigentlich nicht mehr zu Luzern, sondern zu Kriens gehört. So manche Kunstform hat hier ihr Zuhause gefunden: das Theater und der Tanz und die experimentelle Musik. Jüngst hörten wir dort die Komposition «Shades of Ice», einen Soundteppich aus Elektronik- und Klarinettenklängen, inspiriert vom Gletscher Vatnajökull. Und ja, der Saal war voll. Das überrascht nicht, denn wer sich auf den Sog des Pols einlässt, wird belohnt: so zum Beispiel auch im Januar, wenn das Aha-Festival stattfindet. Dann reisen Wissenschafterinnen und Wissenschafter an, die bis spätabends ihre Spezialgebiete referieren. Die Themenpalette ist so weit wie der Blick von der Eisscholle aufs Meer: von der Pop-Musik bis zur Liebe in Zeiten der Dating-App. Eine ideale Gelegenheit, sich wieder einmal richtig zu verirren. Linus Schöpfer

Demnächst: Südpol-Slam, 9. 10.; Intercity-Jazz-Nights, 17. 10.; Aha-Festival, 24./25. 1. 2025. www.sudpol.ch.

Mauz, Einsiedeln

Das Welttheater ist vorbei, der Klosterplatz wieder leer. Aber das macht nichts, denn es gibt in Einsiedeln noch eine andere tolle Bühne. Man entdeckt das Mauz aber erst, wenn man der Altstadt und dem Kloster den Rücken kehrt. Mitten im Industriegebiet hat das Team um André Kälin und Astrid Gerber einen Musikklub mit viel Liebe und Atmosphäre und eigenständigem Programm geschaffen. Der von Maja Hürst an die Wand gemalte Kater Mauz hört mit gespitzten Ohren zu, wenn Musikerinnen wie To Athena das Publikum verzaubern. Neben Newcomern aus der Region sind auch internationale Bands zu hören, und einmal im Monat wird hier Pingpong gespielt. Martina Läubli

Demnächst: Dr. Feelgood, 18. 10.; Eve’s Garden, 9. 11.; Fomies, 23. 11. mauz-einsiedeln.ch.

Künstlerhaus, Boswil

Wenn man auf dem Weg ins Konzert zwischen Weiden hindurchstapft, vom Gebimmel der Kuhglocken auf Mozart oder Schubert eingestimmt wird und mitten im langsamen Satz das leise Summen der Fliegen zur Begleitmusik wird, dann ist man unterwegs zum Künstlerhaus Boswil. Ein altes Pfarrhaus neben einer freundlichen Kirche, deren Türen während eines Konzerts schon einmal offen stehen. Vor allem aber ein Ort, wo klassische Musik lebendig sein darf – so lebendig, wie in vielen glanzvollen Konzertmetropolen schon lange nicht mehr. Denn in der Abgeschiedenheit des Aargauer Dorfs haben Interpretinnen und Interpreten Zeit für einen vertieften Austausch – und sie wagen mehr: stürzen sich kühner in die Musik, schrammeln auch einmal drauflos. In Boswil darf der Anspruch auf höchste Perfektion auch einmal dem Anspruch auf höchste Intensität weichen. Kein Wunder, wurden schon Klassikstars wie Martha Argerich oder Karlheinz Stockhausen für einen Abend zu «Boswilern». Die Stargeigerin Julia Fischer bleibt es sogar für länger: Gemeinsam mit dem Cellisten Benjamin Nyffenegger kuratiert sie seit diesem Jahr die Musik, die hier zwischen Apfelbäumen und Kuhglocken zu neuem Leben erblüht. Anna Kardos

Demnächst: Boswiler Herbst. Mit Julia Fischer, Nils Mönkemeyer und anderen, 10.–13. 10. kuenstlerhausboswil.ch.

Chäslager, Stans

Es war einmal ein Lager für Käse. Als der Käse woanders gelagert wurde, zog der Verein Chäslager ins Käselager von Stans ein. Statt Käse gab es jetzt Kultur. Das war 1967. Dann, vor mehr als vierzig Jahren, ist das Kulturhaus Chäslager in ein denkmalgeschütztes Ökonomiegebäude aus dem 19. Jahrhundert, den Höfli-Gaden, umgezogen. Die Art von Location mit Flanellhemden-Charme, in der man Neil Young und seinen Crazy Horse gerne beim endlosen Jammen zusehen würde. Doch weil Neil Young nicht in der Nähe lebt, finden die Jam-Sessions ohne ihn statt; als «Songbook Sessions», «Bircherix Stubete» oder «Mitspiel»-Abende. Dazu gibts Älpler-Magronen mit, jawohl: viel Käse. Auch die Plakate sind so bunt und originell wie der Rest des Programms, das vom Stanser Musikerpaar Sarah Bowman und René Burrell, früher bekannt als Coal, zusammengestellt wird. Bei so viel Barn-Glam werden sogar Zürcher neidisch. Frank Heer

Demnächst: Singbar (offenes Singen), 15. 10.; Mo Klé, 23. 10.; Fai Baba & Amour sur Mars, 9. 11. chaeslager-kulturhaus.ch.

Literaturhaus Thurgau, Gottlieben

In diesem alten Haus werden Bücher gelesen, geschrieben, gebunden und restauriert. In der Werkstatt riecht es nach Holz, Papier und Leder, während oben unter dem Gebälk des Dachstocks Literatur performt wird. Das Literaturhaus Thurgau ist Veranstaltungsort, Dichterstube und traditionelle Buchbinderei in einem. Der stimmungsvolle Hort der Bücher liegt in Gottlieben in der nordöstlichsten Ecke des Landes – Peripherie ist das aber höchstens aus Schweizer Sicht, schliesslich sind wir hier mitten in der Bodenseeregion. Gleich nebenan liegt Konstanz, am anderen Ufer des Untersees Deutschland. Und Literatur schert sich sowieso nicht um Grenzen, besonders wenn dies- und jenseits die gleiche Sprache gesprochen wird. Grenzüberschreitend tätig war auch das Dichterpaar Clara und Emanuel von Bodman, die einst hier lebten. Ihr Werk ist weitgehend vergessen, aber ihr Haus am Dorfplatz ist offen für Stimmen der Gegenwart. Martina Läubli

Demnächst: Dominique Haensell: The White Rasta, 24. 10.; Moshtari Hilal: Hässlichkeit, 31. 10. Die Handbuchbinderei Merten öffnet die Werkstatt auf Anfrage und bietet auch Workshops an.

Treppenhaus, Rorschach

In Rorschach, dem Rest der Schweiz vor allem als Endstation in Mani Matters «Ir Ysebahn» bekannt, hatte es die Kultur nie leicht. Räume, in denen sie stattfinden konnte, kamen und gingen wie die Ausflugsschiffe am Hafen, nur wenige warfen den Anker und blieben dem Städtchen erhalten. Dann, vor genau zehn Jahren, wurde am Stadthofplatz ein Gebäude aus dem 16. Jahrhundert zu einem Kulturhaus umgebaut; mit Bibliothek, Ludothek, Café, Bar und Konzertbühne unter dem gleichen Stufendach. Das ist nicht nur gut für Rorschach, sondern auch für die vielen Bands aus der Region, die hier ein Publikum finden. Aber auch die Wiener Indierocker Wanda oder die amerikanischen Rapper Delinquent Habits brachten die Wände im «Treppi» schon zum Beben. Selbst Jasskarten werden gelegentlich gezückt, darüber hinaus kippt der Turnverein nach getaner Leibesübung noch gerne ein Bier am Tresen, während im Konzertraum eine Punk-Band aus Vorarlberg dröhnt. Eine junge Crew bestellt das Programm und sorgt dafür, dass Rorschach den Anschluss an die Kultur nicht verpasst. Frank Heer

Demnächst: Thrash-Metal-Abend, 12. 10.; Motörhead-Tribute mit Kilmister, 25. 10.; Familienkonzert mit Znüniband, 17. 11.; Reverend Beat-Man & Urban Junior, 6. 12. treppenhaus.ch.

Im Urlaub, Rapperswil

Als Corona ausbrach, beschloss Astrid Walser, ihren Kleiderladen Esperanto Shop etwas umzufunktionieren. Sie trennte mit einer Wand vom Laden ab, was von nun an «Im Urlaub» heissen und ein «Raum für Experimente und Subkultur, Wiege für Worte, Ecke für Kunst und Klänge» werden sollte. Im April 2022 betraten Walsers Gäste zum ersten Mal den mit spektakulärer Papageientapete verzierten Raum – durch die Geheimtür in der Umkleidekabine. Man kommt hinein, um Konzerten zu lauschen, um Lesungen und Performances von meist lokalen Künstlerinnen und Künstlern zu erleben oder einen Film zu sehen. Wenn die Runde klein ist, tauscht Walser die Klappstühle gegen Sofas aus, und es ist noch gemütlicher im Papageienwald als sonst. Lust auf Urlaub? Das geht für maximal 45 Personen gleichzeitig. Es empfiehlt sich eine Anmeldung per E-Mail. Denise Bucher

Demnächst: Buchvernissage von «Carlas Scherben» des «Im Urlaub»-Mitgründers Frédéric Zwicker, 29. 10; musikalische Spoken-Word-Performance mit Jurczok, 12. 11. imurlaub-rapperswil.com.

Bad Bonn, Düdingen

Düdingen? Doch, doch. Das Kaff im Kanton Freiburg erfreut sich einer seit Jahren wachsenden Bekanntheit. Zu verdanken ist das einem Mann, den hier im Sensebezirk alle nur Duex nennen. Er ist nicht nur der Chef der Kilbi Bad Bonn, des vielleicht interessantesten Musikfestivals der Schweiz, sondern auch eines winzigen Konzertlokals inmitten idyllischer Äcker. Duex hat Kontakte zu Musikerinnen und Musikern auf der ganzen Welt. Dazu gehören bekiffte Metalheads aus Wisconsin, westafrikanische Trommelgruppen, Trance-DJ, die zu ihrer Musik auch noch rappen oder schreien, und dänische Ambient-Komponistinnen. Das Programm von Bad Bonn ist damit so einzigartig wie seine Lage: Düdingen! Oliver Camenzind

Demnächst: Astrid Sonne und Manuel Troller, 13. 10.; Kokoko!, 24. 10. club.badbonn.ch.

Cinema Sil Plaz, Ilanz

Das Tolle am Cinema Sil Plaz ist, dass es nicht nur ein Kino ist, sondern auch kleines Architekturwunder, ausgestattet mit schmucker Bar und, ja, einem kleinen Vorführraum mit 52 roten Sesseln und einer Leinwand. Der Verwandlung der alten Schmiede zum vielleicht schönsten Kino der Schweiz gingen zwei Jahrzehnte voraus, in denen der Filmklub Ilanz Provisorien bespielte. Von der Vergangenheit des Gebäudes zeugen die rohen Stampflehmwände, von der Gegenwart das moderne Mobiliar und, vor allem, ein sorgfältig kuratiertes Programm. Blockbuster sind hier zwar nicht verboten, aber man merkt es dem Cinema Sil Plaz an, dass sich hier Filmfans ins Zeug legen. Coralie Fargeats «The Substance» wird hier ebenso gezeigt wie «Der Spatz im Kamin» von Ramon Zürcher. Dazwischen Trouvaillen aus der Geschichte des Kinos. Und wenn einmal kein Film läuft, spielt im Foyer eine Band, schüttelt der Barkeeper den Cocktailbecher, und draussen flimmert der Mond. Fast wie im Kino. Frank Heer

Demnächst: Konzert mit Pina Palau, 17. 10. Kinoprogramm: cinemasilplaz.ch.

Gleis 21, Dietikon

Ob der Bahnhof Dietikon tatsächlich 21 Gleise hat? Aus Zürcher Perspektive fahren hier die Züge vor allem durch – und zwar, ohne anzuhalten. Tatsächlich aber lohnt es sich, ab und zu die S-Bahn mit Halt in Dietikon zu nehmen. In 12 Minuten ist man vom HB Zürich aus schon dort, und das Gleis 21 schnell gefunden, allerdings in Gestalt eines alten, zum Kultur- und Atelierhaus umgebauten Rangierbahnhofs. Es gibt ein Bistrot, an dessen Decken Bücher kleben, bunte Kunst, Pflanzen und Krimskrams überall, und im grossen Veranstaltungsraum wird Kultur serviert. Eine Art gemischter Salat, bestehend aus Kabarett, Konzerten, Tanznachmittagen für Senioren, Tischtennisturnieren, Kinoabenden und Ausstellungen. Haben wir etwas vergessen? Ach ja, das Kulturhaus feierte dieses Jahr seinen fünften Geburtstag. Happy Birthday!
Frank Heer

Demnächst: Pingpong, Drinks und DJ, 10. 10.; Mundart-Pop mit Kaschmir, 12. 10.; Open Jam-Session, 17. 10.; «Mars Express», Film, 25. 10. gleis21.ch.

Zimmermannhaus, Brugg

Alte Schale, neuer Kern – das gilt für das Zimmermannhaus in Brugg. Im 1805 erbauten, klassizistischen Haus des einstigen Baumwollhändlers Johann Kaspar Zimmermann ist seit vierzig Jahren die zeitgenössische Kunst zu Gast mit Persönlichkeiten wie Sadhyo Niederberger oder Angela Anzi. In den ersten Jahren hatten die Ausstellungen den Zweck, Käuferinnen und Käufer für die Werke zu finden. Heute versteht sich das Haus stärker als Förderin von Projekten. So gesehen ist der unglamourös-hemdärmelige Klinkerboden nichts anderes als die sichtbare Verkörperung dieser Philosophie. Geradezu einzigartig an diesem Ort ist aber noch etwas anderes: eine besondere Form der Zweispartigkeit. Denn neben der Kunst ist auch die Kammermusik ständiger Gast im Zimmermannhaus. Wer also den Geiger Sebastian Bohren, den Pianisten Benjamin Engeli oder das Merel-Quartett aus nächster Nähe erleben will, für den gilt: Ab nach Brugg! Anna Kardos

Demnächst: Ausstellung Myriam Gämperli, Celia und Nathalie Sidler, 2.–24. 11. zimmermannhaus.ch.

Schlössli, Appenzell-Steinegg

Das Schlössli ist zunächst eine Beiz auf einem Hügel an der Brülisauerstrasse 24 in Steinegg bei Appenzell. Die Decke hängt tief, im Täfer hockt der Stumpenrauch, und der Blick aus den kleinen Sprossenfenstern fällt auf den Hohen Kasten. Man kann hier ein Bier trinken oder einen Schüblig essen oder auch nur ein Biberli. Und wenn man Glück hat, dann spielt hier auch die Musik. Patricia Inauen, die das Schlössli seit vielen Jahren führt, hat schon New Yorker Singer-Songwriter oder Manuel Stahlberger mit seiner Ukulele in ihre gemütliche Gaststube geholt, wo es zwar keine Bühne gibt, dafür ein herzliches Publikum. Es gibt Jazz-Stubeten und Lesungen, und im Sommer findet draussen ein kleines Open-Air-Festival statt. Ein fixes Programm oder eine Homepage? Gibt es nicht, dafür ein Facebook-Profil. Einfach ab und zu draufgucken. Frank Heer

Demnächst: Michael Vitali Trio, New York, 8. 11.; Michael Neff Group 22. 12. Infos und Reservationen: [email protected]. Öffnungszeiten: Mo, Do, Fr ab 17 Uhr.

Gare de Lion, Wil

Viele Schweizer Ortschaften enden auf «-wil» – doch das Original liegt im Osten: Wil. Hier halten sogar die Schnellzüge. Vom Bahnhof sind es zehn Gehminuten zur Gare de Lion. Natürlich soll der Name Weltanschluss vermitteln. Kann jeder behaupten, doch der wunderbar verlotterte Kulturbahnhof hinter den Geleisen löst das Versprechen seit über dreissig Jahren ein. Mit einem so breiten wie geschmackssicheren Konzertprogramm, Lesungen, Filmabenden und Rap-Battles. Lokal verankert und doch mit weit ausgefahrenen Antennen ausgestattet. 2025 wird das Lokal saniert und zügelt in dieser Zeit in den alten Wiler Stadtsaal. Hoffentlich kommt der Gare de Lion bei der Renovation nicht der weltstädtische Charme abhanden. Frank Heer

Demnächst: Gamma Kite, 26. 10.; Šuma Čovjek, 16. 11.; The Gardener and The Tree, 6. 12. garedelion.ch.