close
close

„Halt, halt, ich erkenne mein Deutschland nicht wieder!“

„Halt, halt, ich erkenne mein Deutschland nicht wieder!“

Frau Sanyal, Sie sind in Nordrhein-Westfalen mit einem indischen Vater aufgewachsen. Für viele Deutsche scheint Indien bis heute ein mystischer Sehnsuchtsort zu sein. Welche Klischees sind Ihnen begegnet?
Oh, da leben die besseren Menschen, die können so toll Yoga und Ayurveda, die sind so bunt und spirituell. Ich habe die Trumpfkarte gezogen, was Diskriminierung angeht. Aber wenn Indien darauf reduziert wird, schließt man es aus dem Kreis der ernstzunehmenden politischen Akteure aus. Ein weiteres Klischee: In Indien verhungern die Menschen. Natürlich herrscht vielerorts große Armut. Aber seit der Befreiung vom Kolonialismus gab es keine Hungersnot mehr in Indien.

Auch die Hauptfigur Ihres neuen Romans „Antichristie“ wächst mit einem indischen Vater auf. Deren deutsche Mutter stellt gerne Batiktücher her und wirkt in ihrer Verklärung für Indien wie die Karikatur einer Alt-68erin. Haben Sie solche Menschen selbst getroffen?
Natürlich. Aber das, was uns heute wie eine Karikatur erscheint, war damals auch ein Ringen um Emanzipation. Die Frauenbuchläden der 80er Jahre waren ja gleichzeitig auch Esoterikläden. Ich bin mit meiner Mutter regelmäßig in den Frauenbuchladen in Düsseldorf gegangen, als sie Krebs hatte und dort nach Büchern über Gesundheit und alternatives Essen gesucht hat. Da habe ich Stunden verbracht. „Frauenkörper neu gesehen“, „Feminismus und Sozialismus“, aber auch die bayrische Hexe Luisa Francia … das war eine wilde Mischung aus Naturritualen und feministischer Politik.

War Indien auch für Sie ein Sehnsuchtsort?
Indien war wie eine Fantasiewelt, als wäre es gar kein echtes Land. Meine Mutter hatte, so hieß es damals, einen Ausländer geheiratet. Diesen Frauen sagte man immer: Achtung, diese Männer sind so patriarchal! Die Ehe wird auf jeden Fall in die Brüche gehen. Und dann nehmen die die Kinder mit in ihre Heimatländer – für immer. Tatsächlich war ich die ganze Schulzeit über kein Mal in Indien, weil es im Sommer zu heiß ist und die Weihnachtsferien zu kurz sind. Außerdem kosten Flüge für eine ganze Familie sehr viel Geld. Ich fühlte mich irgendwie indisch, aber zugleich nicht indisch genug. Alle fragten mich, wo kommst du her? Und wollen Indien als Antwort hören. Aber ich fühlte mich wie eine Mogelpackung.

Ihr erster Roman „Identitti“ enthält Tweets von Aktivisten und Autoren, die einen fiktiven Skandal im deutschen Uni-Betrieb kommentieren. Solche Elemente fehlen in „Antichristie“. Weil Deutsche kaum Interesse an Indien haben?
Es wäre langweilig, denselben Trick in jedem Buch zu verwenden. Aber auch in „Antichristie“ vermischen sich Realität und Fiktion. Alle Zeitungsberichte, die vorkommen, sind echt und stammen aus der Zeit. Vieles, was Gandhi oder andere historische Figuren sagen, haben sie auch wirklich gesagt. Tatsächlich gibt es in Deutschland wahnsinnig wenig Wissen über Indien. Das Buch wird ja insgesamt positiv rezensiert, aber wenn etwas kritisiert wird, heißt es oft: Das ist alles so verwirrend.

Ich bin Hindu und Katholikin – und das ist kein Widerspruch.

Mithu Sanyal

Eine Kritikerin schrieb, Sie erteilten ein „notdürftig in Dialoge verpacktes Indien-Nachhilfeprogramm“. Trifft Sie das?
Schon – weil ich Iris Radisch so toll finde. Ich will, dass sie mich auch toll findet. Aber ehrlich gesagt, finde ich ihre Kritik nicht fair. Ja, es ist ein Diskurs-Roman, aber es passiert auch ganz viel. Die Erzählerin, Durga, reist durch die Zeit, sie zieht in das berüchtigte India House ein, wo Waffen geschmuggelt und Bomben gebaut werden, es gibt einen Kriminalfall, der aufgeklärt wird, da wird nicht nur gequatscht.

Sie begegnet um 1900 indischen Freiheitsaktivisten und weiß schon, in welche Gewalt ihr Kampf münden wird. Da schwingt der Wunsch mit, er möge anders abgelaufen sein.
Durga weiß vor allem auch, was den Menschen, die sie in India House trifft, bevorsteht: Gefängnis, Folter, einige werden hingerichtet. Und das sind für sie keine historischen Figuren mehr, sondern Freunde und Mitbewohner. Natürlich wünscht sie sich, sie könnte das ändern. Aber es geht mir weniger darum, die Vergangenheit umzuschreiben, als zu verstehen: Wie sind wir hierhingekommen? Wir kennen oft nur die Überschriften der Geschichte, nicht die Hintergründe. Wie zum Beispiel bei Savarkar, dem Antichrist in „Antichristie“.

Vinayak Damodar Savarkar ist die heimliche Hauptfigur von „Antichristie“, ein militanter, charismatischer Ideologe. Warum haben Sie ihn ins Zentrum gerückt – und nicht etwa Gandhi, der nur eine Nebenrolle spielt?
Ich kannte Savarkar als den Vater des Hindunationalismus, der heute ein Vorbild für den rechten indischen Premier Modi ist – eine Gegenfigur zu allen meinen Überzeugungen. In der Recherche habe ich gemerkt, dass ihm in seiner frühen Zeit viel an der Zusammenarbeit von Hindus und Muslimen lag, dass er in London muslimische Freunde hatte.

Ich finde die ethnonationale Ideologie des Hindutva immer noch eine Katastrophe, aber sogar die Geschichte des Hindunationalismus hat deutlich mehr mit dem britischen Empire zu tun, als wir denken.

Was lernen Sie daraus?
Selbst große Teile der Linken hatten damals blinde Flecken, wenn es um den Kolonialismus ging – das ist teilweise heute noch so. 1907 gab es einen großen Sozialistenkongress in Stuttgart, zu dem eine Delegation aus India House reiste und die Flagge der indischen Unabhängigkeit entrollte. Die britischen Labour-Genossen haben unter Protest den Saal verlassen. Nach dem Motto: diese undankbaren Inder. Einer der traurigsten Sätze in dem Buch, der übrigens ein Zitat des indischen Anarchisten Acharya ist: Die Linke will uns nicht.

Aber es gab natürlich auch viel internationale Zusammenarbeit, gerade zwischen den Iren und den Indern. Beide haben damals für einen eigenen Staat unabhängig von den Briten gekämpft. Und Staat bedeutete Anfang des 20. Jahrhunderts: Nationalstaat. Doch in einem Nationalstaat muss es immer jemanden geben, der nicht zu ihm gehört. In Indien haben die Briten die Spaltung von Hindus und Muslimen gezielt vertieft, um die eigene Macht zu sichern.

Nach der indischen Staatsgründung 1947 wurden über eine Million Menschen bei der Teilung in Indien und Pakistan getötet. Und noch heute fordert der Konflikt Opfer. Bevor die Briten kamen, galt Religion in Indien nicht als Identität, Menschen konnten Hindu und gleichzeitig Muslim sein. Ich bin Hindu und Katholikin – und das ist kein Widerspruch.

Im Rheinland geht das.
Ja, genau.

Sie haben ihr ein Denkmal gebaut: Queen-Elizabeth-Statue in Newcastle-under-Lyme.

© REUTERS/Phil Noble

Der Tod Queen Elizabeths 2022 strukturiert die Kapitel Ihres Buches. Zahlreiche Vertreter aus ehemaligen Kolonien äußerten damals wegen der Kolonialverbrechen ihre Erleichterung und ihre Abscheu. Was empfanden Sie?
Tatsächlich eine merkwürdige Form von anachronistischer Trauer. Ich bin mit der deutschen Bewunderung für britische Popkultur aufgewachsen – und die Queen war Teil davon. Aber ich musste auch nie Steuern für das Königshaus zahlen. Für mich war das Folklore.

Sollten die Briten Indien Reparationen zukommen lassen?
Was damals aus Indien gestohlen wurde, kann eine Insel wie Großbritannien im Leben nicht zurückzahlen. Der Schriftsteller Shashi Tharoor hat 2015 in einer großen Rede in der Oxford Union für Reparationen argumentiert und vorgeschlagen, Großbritannien solle ein Pfund für jedes Jahr Kolonialherrschaft zahlen. Also 200 Pfund. Aber schon das hat ja zu Protest geführt.

In Großbritannien herrscht weiterhin die Vorstellung: Das Empire hatte auch positive Seiten. Wir haben das Schienennetz in Indien gebaut! Nur dass die Inder das Vielfache dafür bezahlen mussten als die Briten zu Hause für ihre Eisenbahnen, und trotzdem in vielen Wagen, die nur für Weiße waren, nicht fahren durften. Es ging darum, die Kolonien so stark auszubeuten wie nur möglich. Es war in Ordnung, dass dabei viele Menschen sterben – solange noch genügend billige Arbeitskräfte übrigblieben.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Ihre Entrüstung ist zu spüren. Genügt es Ihnen da, Bücher zu schreiben?
Bücher schreiben ist nun einmal das, was ich mache. Aber Romane können etwas, was andere Formen von Wissensvermittlung nicht schaffen. Vor kurzem veröffentlichten Wissenschaftler eine Studie, laut der zwischen 1880 und 1920 100 Millionen Inder an den Folgen des Kolonialismus gestorben sind – etwa durch Hungersnöte, die die Briten verursacht haben. 100 Millionen Menschen!

Trotzdem bleibt das abstrakt. Wir müssen die Zahl fühlbar machen, erzählen, was für Menschen das waren. Menschen mit einer Geschichte, die einem das Herz zerreißt.

Sind wir in Deutschland weiter als in Großbritannien?
Bei uns hat sich kurz ein Fenster geöffnet für Diskussionen. Aber das schließt sich gerade wieder. Zum Beispiel ist das wunderbare Konzept, das Claudia Roth Anfang des Jahres zur Erinnerungskultur vorgelegt hat und dazu, wie man darin viele Opfergruppen einbeziehen kann, extrem stark kritisiert worden. Sie ist dann ja eingeknickt und jetzt soll es wieder Opfer erster Klasse geben – die der Shoah und der SED-Diktatur – und Opfer zweiter Klasse, die des deutschen Kolonialismus und rechtsextremen Terrors. Das ist verheerend.

In der Friedensforschung geht es darum, anzuerkennen: Es gibt Schmerzen auf allen Seiten. Und diese Schmerzen nicht zu gewichten.

Mithu Sanyal

Seit dem 7. Oktober 2023 lebt, wer in Deutschland als Jude erkennbar ist, wieder in Unsicherheit. Wie soll die Erinnerung an den Kolonialismus stattfinden, ohne die an die Shoah zu verdrängen?
Erinnerung ist keine begrenzte Ressource. Ich glaube zum Beispiel fest daran, dass ein gemeinsames Trauern zu einem größeren Verständnis füreinander führt.

Die Shoah wird in Deutschland als singuläres Verbrechen angesehen.
Viele Aspekte machen den Holocaust natürlich singulär. Doch das heißt nicht, dass wir ihn nicht mit anderen großen Menschheitsverbrechen ins Verhältnis setzen sollten. Vergleichen ist nicht gleich Relativieren – obwohl es einige Leute gibt, die vergleichen und relativieren.

Die Erforschung von Antisemitismus und Rassismus ist eng miteinander verbunden. Daher stört mich die aufkommende Kritik am Postkolonialismus, die so tut, als sei er grundsätzlich antisemitisch, und diese enge Zusammenarbeit ignoriert. Das ist so wie zu sagen, alle Philosophie ist rassistisch.

Wie soll das gemeinsame Trauern, das Sie fordern, möglich sein, wenn hierzulande Juden bedroht werden, und umgekehrt Menschen mit palästinensischem Hintergrund täglich Israels Krieg in Gaza sehen?
In der Friedensforschung geht es darum, anzuerkennen: Es gibt Schmerzen auf allen Seiten. Und diese Schmerzen nicht zu gewichten. Viele Friedensinitiativen, etwa „Standing Together“ oder „Jews and Palestinians for Peace“, versuchen einen solchen Dialog, mit allen Schwierigkeiten, den das mit sich bringt. Manche der Beteiligten haben Angehörige verloren und wollen trotzdem mit der anderen Seite zusammenarbeiten, damit das nicht so weitergeht.

Deutschland ist für die Shoah verantwortlich. Eine Gewichtung, eine Positionierung an der Seite Israels, leitet sich für viele daraus ab. Erkennen Sie das an?
Der aktuelle Krieg macht die Situation auch für Jüdinnen und Juden in Israel unsicherer und kann zu einer Eskalation in der Region führen. Wer weiß, wie lange es den Staat Israel dann noch gibt. Es müsste Teil der deutschen Staatsräson sein, auf eine Friedenslösung hinzuwirken. Also nicht mit erhobenem Zeigefinger zu mahnen, sondern die Friedensinitiativen vor Ort zu unterstützen, wie zum Beispiel „A Land for All – Two States One Homeland“, „Zazim – Community Action, Standing Together“. An der Seite einer teilweise rechtsradikalen Regierung zu stehen, ist ein riesiges Problem. Deutschland hat eine historische Verantwortung – und darf deshalb keine Menschenrechtsverletzungen unterstützen.

Mithu Sanyal: „Antichristie“, Hanser Verlag, 544 Seiten, 25 Euro.

© Hanser Verlag

Auch Ihre Romancharaktere ringen um Sprache – und arbeiten an einer Agatha-Christie-Neuverfilmung mit einem schwarzen Kommissar Poirot. Konservative Demonstranten protestieren. Am Ende diskutieren beide Seiten, aber ohne ein handfestes Ergebnis.
Doch, es gibt eins. Die Beteiligten merken: Allen geht es um Literatur, alle sind mit Herzblut dabei. Die anderen sind nicht nur der woke Mob oder der rechte Mob. Ihre Argumente sind nicht alle nur falsch. Ich frage mich oft: Wie können wir den Bereich des Sagbaren möglichst groß machen? Im Moment ist dieser Bereich so irre klein: Wenn du nicht meiner Meinung bist, dann musst du eine böse Motivation haben. Da reichen schon geringste Abweichungen.

Wie erleben Sie den aktuellen Niedergang der Wokeness in Deutschland?
Schon der Begriff ist so aufgeladen. Ich kenne hier niemanden, der sich selbst so beschreibt, außer in selbstironischer Form. Ich würde sagen: Vor kurzem hatten bestimmte Positionen auf einmal eine diskursive Macht – vielleicht nicht am Wohnungsmarkt oder in der Arbeitswelt, aber in manchen Medien. Das hat zu viel Bewegung in der Kulturszene geführt und teilweise auch zu viel Unruhe. Es wurde viel darüber gestritten, was und wen man jetzt alles canceln muss.

Und gerade gibt es einen Backlash, und wir erleben, dass die andere Seite immer viel erfolgreicher im Canceln ist: Kritik an Rassismus gilt plötzlich als antisemitisch, Asylrecht brauchen wir nicht, Streikrecht nur, wenn es nicht stört, wir müssen aufrüsten und sogar die Wehrpflicht wieder einführen … Halt, halt, ich erkenne mein Deutschland nicht wieder!

Sie sind eine Verfechterin der Diskussion, der Empathie. Momentan stehen die Zeichen auf Konfrontation. Fühlen Sie sich auf verlorenem Posten?
Ich muss zugeben, dass ich noch nie so verzweifelt war wie zurzeit. Gleichzeitig geht das Leben ja weiter. Konfrontation wird nicht auf Dauer funktionieren. Wir brauchen Menschen, die auf Verständnis setzen und Brücken bauen.

Sie sprachen die Debatte um eine Stärkung der Bundeswehr an. Glauben Sie, dass man alle Menschen mit Argumenten erreichen kann – auch Putin?
Ich bin ja Schriftstellerin und keine Friedensforscherin. Aber es gibt ja tolle Friedensforscher. Der designierte Linken-Vorsitzende und Biowaffenexperte Jan van Aken erklärt, dass es ein Fehlschluss ist zu glauben, wir könnten Friedensverhandlungen nur mit unseren besten Freunden führen. Ja, Verhandlungen können scheitern, aber im Moment denken wir, dass wir Konflikte nur militärisch lösen können. Und das ist definitiv zum Scheitern verurteilt.

Sie sagten mal: „Literatur muss freundlich sein“. Wann ist es Zeit, unfreundlich zu werden?
Ja, so wurde ich zitiert. Was ich damit meinte, war, dass die Literatur, die ich schreibe, freundlich sein muss – nicht alle Literatur. Mich interessieren Bücher, die Fenster öffnen, die Gespräche ermöglichen, die einen warmen Blick auf die Welt haben.